Das erholsamste Geheimnis der Großstadt

Das erholsamste Geheimnis der Großstadt

Das Naturschutzgebiet Divoká Šárka im Westen Prags lockt mit Wasser, Wiesen und einem sagenumwobenen Felsen

28. 5. 2014 - Text: Maria SilenyText und Foto: Maria Sileny

Eben noch war das Quietschen der Straßenbahnen, das Donnern der Lastwagen da. Doch der Lärm verstummt allmählich. Denn die vierspurige Evropská-Straße, die von Dejvice aus der Stadt herausführt, birgt ein Geheimnis. Ein unscheinbarer Asphaltweg nahe der Straßenbahn-Endhaltestelle Divoká Šárka führt in eine unvermutet andere Welt. Kurvenreich geht es hinunter. Holundersträucher, Butterblumen und Lärchen säumen den Weg. Langsam wird es stiller, die Vögel zwitschern. Durchatmen. Die staubige Hauptstraße scheint es nicht mehr zu geben. Plötzlich eröffnet sich vor den Augen des Spaziergängers ein grünes Tal, rechts ein Stausee, links ragen Felsen hoch, die einen Bach umsäumen. Ja, das ist sie: Divoká Šárka, die Wilde Šárka, ein Naturschutzgebiet und eines der erholsamsten Geheimnisse Prags.

Allein der Stausee, der von weitläufigen Wiesen umgeben wird, lässt einen an Urlaub denken. „Džbán“ („Krug“) ist der Name des Wasserwerks, das in den späten sechziger Jahren am Šárka-Bach erbaut wurde. Ein paar Wild­enten gleiten über die blaue Fläche, die mehr als 18 Hektar umfasst. Bäume spiegeln sich im ruhigen Wasser. Darunter geht es an manchen Stellen mehr als sieben Meter in die Tiefe, in der Tausende Karpfen und Zander leben. Ein Paradies für Sportangler und für alle, die ihre Seele baumeln lassen wollen.

Weniger gediegen bewegt sich der Šárka-Bach, der aus dem Stausee sprudelt und zu einem Spaziergang entlang seiner Ufer  einlädt. Der schmale Asphaltweg am Bach führt immer tiefer in die grüne Oase, die sich auf 25 Hektar erstreckt. Es ist ein heißer Frühsommertag, doch in der Schlucht von Šárka wechseln sich sonnige Streckenabschnitte mit solchen, die feucht, schattig und dämmerig sind. Das Wort „dämmerig“, tschechisch „šerý“, ist vermutlich der Ursprung des Namens Šárka. Es ranken sich aber auch Legenden um den Ort, der, wie archäologische Funde zeigen, bereits in der Steinzeit besiedelt war.

Sagenhafter Sprung
Im siebten und achten Jahrhundert befand sich auf den Felsen rechts und links des Baches eine slawische Festung, deren Überreste noch heute zu erkennen sind. Vermutlich führte auch eine bedeutende Handelsstraße durch das Gebiet. In diesen Urzeiten der tschechischen Geschichte ist auch die Legende von Šárka und Ctirad angesiedelt, die der böhmische Chronist Kosmas von Prag im elften Jahrhundert erstmals erzählte, und nach ihm Schriftsteller wie Julius Zeyer und Alois Jirásek: Nach dem Tod der Fürstin Libuše, der sagenhaften Stammmutter der Tschechen, haben die Frauen gegen Libušes männlichen Nachfolger Přemysl aufbegehrt. Dessen Vertrauter Ctirad wurde Opfer einer Frauenlist, wobei die Hauptrolle der schönen, jungen Šárka zufiel.

Die kriegführenden Frauen suchten sie aus, um Ctirad in eine Falle zu locken: Gefesselt und weinend soll er die junge Frau gefunden haben, als er mit seinen Männern im heutigen Naturschutzgebiet unterwegs war. Verzaubert von Šárkas Schönheit, versuchte er, ihr zu helfen.

Sie bedankte sich mit Met, nach dessen Genuss der vermeintliche Retter und seine Anhänger von Kriegerinnen überfallen und brutal ermordet wurden. Šárka aber, verzweifelt über ihre Tat, wählte den Freitod: Sie sprang hinunter von einem Felsen, der bis heute „Der Mädchensprung“ heißt, auf Tschechisch „Dívčí skok“.

Wer sich heute die Mühe macht und ihn besteigt, wird von einem herrlichen Ausblick auf das Šárka-Tal und die Stadt Prag belohnt. Unterhalb des sagenumwobenen Felsens lädt eine Gaststätte Spaziergänger und Radfahrer ein, sich zu stärken. Auch sie trägt den Namen „Dívčí skok“. Der schattige Biergarten am Ufer des gurgelnden Baches ist an heißen Wochenenden ein friedliches Paradies für Menschen, die dem Großstadtlärm entkommen möchten.

Verborgene Seiten
Ein paar Schritte weiter findet sich noch eine andere Erholungs­überraschung: ein Freibad, dessen zwei Becken mit dem Wasser des Šárka-Bachs gespeist werden. Früher stand eine Mühle an dem Ort, an dem in den dreißiger Jahren die Müllersfamilie das Schwimmbad errichten ließ. Malerisch fügt es sich in die Landschaft unterhalb des Šárka-Felsenmassivs und ist mit allem ausgestattet, von Miet-Kabinen über Tischtennisanlagen bis hin zu einem Imbiss und Kinderspielplatz. Das Wasser in den beiden Schwimmbecken ist kristallklar, jedoch so kalt, dass nicht einmal Abgehärtete mehr als ein paar kurze Minuten dort ausharren können. Eine Erfrischung an sehr heißen Tagen ist das allemal, zumal der Fußweg zum Schwimmbad durch die Schlucht entlang des plätschernden Baches führt.

Kann das Prag sein? Hohe Felsen säumen den Weg. Hainbuche, Ahorn und Esche spenden Schatten. Der Bach zieht seine Mäander durch saftige Wiesen, auf denen Mütter mit Kleinkindern oder Radfahrer rasten. Hunde tollen herum. Seltene Farne gedeihen im Schatten, auf der Sonnenseite der Felsen blühen Heidekraut und Königskerze. Es duftet, summt und surrt. Bald lässt sich ein weißes Gebäude erblicken. Es ist die Teufelsmühle (Čertův mlýn), die als eine der ehemals vielen Mühlen am Ufer des Šárka-Baches noch heute steht und an vergangene Zeiten erinnert.

Bühne mit Bäumen
Der Weg schlängelt sich weiter bergauf zu einer Waldlichtung. Schläfrig liegt sie in einer Vertiefung, dämmert vor sich hin. Die Sonne scheint durch die Baumkronen rundherum. Einmal im Jahr, am ersten Wochenende im September, wacht hier alles auf. Dann verwandelt sich der unscheinbare Ort in die Freilichtbühne des Prager Nationaltheaters. Es kann sein, dass die sagenhafte Fürstin Libuše auf einem weißen Pferd geritten kommt, wie im Jahr 2010, als die gleichnamige Oper von Bedřich Smetana aufgeführt wurde. Aber auch Smetanas „Verkaufte Braut“ oder die Oper „Rusalka“ von Antonín Dvořák wurden bereits zwischen den Wäldern und Felsen der Šárka gespielt. Die Sommerbühne des Nationaltheaters entstand 1913, auf Betreiben des Bass-Sängers Emil Pollert. Nur zehn Jahre später schien alles vorbei zu sein mit der Sommerbühne. Viele Jahrzehnte passierte dort nichts. Seit 2005 wird sie wieder regelmäßig genutzt. Die jährlichen Aufführungen sind kostenlos. Tausende Prager strömen zu diesem Anlass ins Šárka-Tal, mit Matten, Decken und Picknickkörben ausgestattet. Bis zu 10.000 Opernfans kann das Freilichttheater fassen. Der Zuschauerraum, durchwachsen von Obstbäumen, grenzt an eine weitläufige Wiese.

Im Frühsommer sind keine Opernsänger, sondern nur Singvögel auf der Waldbühne zu hören. Die Sonne prallt auf das Gras, darin summt und raschelt es. Doch der Spaziergang und mit ihm auch der Kurzurlaub gehen allmählich zu Ende: Am Horizont hinter der Wiese kündigt sich die Großstadt an, Hochhäuser und Siedlungen sind zu sehen. Ein Feldweg führt am Campingplatz Džbán vorbei, macht einen Bogen zurück zur vierspurigen Hauptstraße. Und wieder donnern die Lastwagen und quietschen Straßenbahnen.

Weitere Artikel

... von Maria Sileny
... aus dem Bereich Prag

Abonniere unseren Newsletter