Brutale Gleichgültigkeit

Brutale Gleichgültigkeit

In Josef Formáneks Roman „Die Wahrheit sagen“ treffen sich zwei Verlorene

4. 5. 2016 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Foto: Jakob Bobuski

Bernhard Mares zieht als SS-Mann in den Krieg. Danach wird er Übersetzer für die sowje­tische Armee, Funktionär der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei und landet schließlich hinter Gittern. Es sei die Geschichte eines Lebens, das nur überstehen könne, wer das Leben liebt, kündigt der Klappentext an. Doch die Liebe zum Leben stellt man sich anders vor, als sie auf den folgenden 477 Seiten präsentiert wird.

Der Erzähler ist Schriftsteller mit Alkoholproblem und Sinnkrise. Den greisen Mares findet er zufällig auf einer Müllkippe in Nordböhmen. Er ist fasziniert und wittert eine Geschichte für seinen nächsten Roman. Die beiden lassen sich auf einen Handel ein: Der alte Mann berichtet von seinem Leben, dafür soll der Schriftsteller dessen große Liebe Sophie finden.

Das Leben von Bernhard Mares beginnt in einer Wiener Straßenbahn. Seine Mutter Rosa Maria Mares war als junge Frau aus Mexiko nach Europa gekommen, um „etwas Großes“ zu schaffen – stattdessen wird sie von einem neureichen Österreicher schwanger. Keiner von beiden will das Kind. Rosa Maria legt es auf den Stufen einer Kirche ab. Mit diesem lieblosen Akt beginnt Mares’ Reise durch das 20. Jahrhundert.

Sein Zuhörer kämpft indes mit sich selbst. Seine Gedanken über Mares und den Sinn des Daseins unterbrechen die Erzählung über das Leben des Protagonisten. Der namenlose Schriftsteller weist übrigens beträchtliche Parallelen zu Autor Josef Formánek auf: Beide haben Probleme mit Alkohol, beide nehmen weite Reisen auf sich, um die innere Unruhe und Zerrissenheit zu überwinden. Formánek war fast 13 Jahre lang Chefredakteur des von ihm mitgegründeten Geografiemagazins „Koktejl“. Die Insel Siberut im Indischen Ozean faszinierte ihn besonders und wurde zu seiner zweiten Heimat. Auch der Erzähler in „Die Wahrheit sagen“ reist bis nach Indonesien, um in der Fremde „durch die eigene Seele zu spazieren“.

Zurück zu Bernhard Mares. Ein Pater und ein Küster nehmen sich seiner an. Letzterer erinnert sich an seine Schwester Anna, die schon lange von einem eigenen Kind träumt. So wird Mares Tscheche. Und Anna liebt ihn aufrichtig, bis ihre beste Freundin Marie sie aus Eifersucht bei der Obrigkeit anschwärzt. Anna muss das Kind ungeklärter Herkunft abgeben, Mares landet im Waisenhaus. Dort entdeckt er zusammen mit seinem einzigen Freund Rudy seine großen Sehnsüchte in einem Roman: Freundschaft, Abenteuer, Südamerika. Doch das Leben bringt eine große Ernüchterung.

Die Suche nach einer Familie treibt ihn in die Arme der SS. Er findet sich bei einer Versorgungseinheit an der Ostfront wieder. Um ihn herum sterben die Menschen. Jedes Überleben, auch seines, ist ein kleines Wunder. Allerdings hält ihn eher seine zunehmende Gleichgültigkeit am Leben, nicht die Liebe. Die findet er in Gestalt der inhaftierten Sophie schließlich doch noch – in einem Konzentrationslager.

„Ich habe in diesem Jahr so viel erlebt, Gutes und Schlechtes, als wollte das Leben mir zeigen, was es alles hervorzubringen vermag, wenn ich mich ihm nicht widersetze“, schreibt der Erzähler. Mares hat sich sein ganzes Leben lang niemandem widersetzt; dabei ist ihm auch Gutes widerfahren. Die Bilanz fällt insgesamt aber eher negativ aus. Fast 20 Jahre verbringt er in tschechoslowakischen Gefängnissen, unterbrochen von kurzen Glücksmomenten in Freiheit mit Sophie. Was ihm immer wieder zum Verhängnis wird, ihn zugleich aber auch oft vor dem Schlimmsten bewahrt: Er ist so störrisch in seiner Gleichgültigkeit, dass er stets die Wahrheit sagt. „Wahrhaftig sprechen, hier und jetzt, das war sein Weg.“ Manche erklären ihn deshalb für verrückt, er ist ihnen die Kugel dann nicht wert.

Mares ist ein Antiheld. Im Gegensatz zu seinem schreibenden Gegenüber lädt er nichts mit Bedeutung auf. Er taktiert wenig, er reagiert die meiste Zeit nur, er ist ziemlich leer. Gerade das macht seine Erzählung aber interessant. Mit minimalem Antrieb schafft er es nach seiner Zeit in den kommunistischen Zuchthäusern bis zur eigenen Bar in Hamburg, zum Millionär und schließlich doch noch bis nach Südamerika. Ein „Brutaler Roman über die Liebe zum Leben“ ist das Buch laut Untertitel. Und vielleicht liegt die Brutalität ja gerade darin: So groß ist die Liebe zum Leben nicht – zumindest bei Mares. Das Leben passiert einfach, egal wie viel oder wenig man sich daraus macht.

Josef Formánek: Die Wahrheit sagen. Brutaler Roman über die Liebe zum Leben. Aus dem Tschechischen von Martin Roscher. Gekko Verlag, Třebíč 2016, 477 Seiten, 23 Euro, ISBN 978-80-906354-0-1