Bewegte Zeiten

Bewegte Zeiten

Das ARD-Studio Prag feiert sein 50-jähriges Bestehen. Politische Prominenz und ehemalige Korrespondenten erinnern an fünf wechselvolle Jahrzehnte

29. 4. 2014 - Text: Stefan WelzelText: Stefan Welzel; Foto: MDR

Wie viel Stunden Zeitunterschied liegen eigentlich zwischen Deutschland und Tschechien? Mit dieser Frage mussten sich zahlreiche ARD-Korrespondenten des Prager Auslandsstudios immer wieder auseinandersetzen, wenn sie aus der Heimat zugeschaltet wurden. Natürlich lautet die Antwort null. Die Unkenntnis ist ein symbolischer Beleg dafür, wie weit entfernt Tschechien zumindest in den Köpfen vieler Deutscher lange Zeit war und häufig auch heute noch ist. Und doch: Das ARD-Studio Prag gehört innerhalb eines weltweiten Korrespondentennetzes von über 30 Stationen zu den ältesten.

Am 1. Mai 1964 erhielt Sven Schürenberg als erster Berichterstatter des ersten öffentlich-rechtlichen Senders seine Akkreditierung. In der vergangenen Woche beging das Studio mit einer Festveranstaltung in der Deutschen Botschaft sein 50-jähriges Jubiläum. Davor lud das kleine Team um TV-Korrespondent Danko Handrick (MDR) und Stefan Heinlein (Deutschlandfunk) ehemalige Korrespondenten sowie Vertreter aus Medien und Politik zu einem Empfang im böhmischen Traditionsgasthaus „Baráčnická rychta“. Prominente tschechische Gäste waren Ex-Außenminister  Karel Schwarzenberg und der ehemalige Premier Petr Pithart.

Das ARD-Studio in Prag blickt auf eine wechselvolle und ereignisreiche Geschichte zurück. Besonders in der Zeit der sogenannten Normalisierung in den siebziger und achtziger Jahren stellten die bundesdeutschen Korrespondenten eine wichtige Verbindung für tschechoslowakische Dissidenten in den Westen dar. Zu wissen, dass das, was man tat, auf der anderen Seite des Eisernen Vorhanges registriert, diskutiert und gewürdigt wurde, war für den tschechoslowakischen Widerstand von essentieller Bedeutung. Die Kontakte von Fernsehkorrespondent Helmut Clemens zu den Vertretern der Charta 77 um Václav Havel führten 1978 sogar zu dessen Ausweisung aus der ČSSR. In dieser Zeit wuchs das Ansehen der Rundfunkanstalt in der tschechoslowakischen Bevölkerung enorm.

„Die ARD hatte einen guten Namen. Wir konnten mit allen reden“, erinnert sich Jan Metzger, Radiokorrespondent von 1989 bis 1994, gegenüber dieser Zeitung. Metzger arbeitet heute als Intendant bei Radio Bremen und schaut gerne auf eine der spannendsten Epochen der tschechoslowakischen Geschichte zurück. „Es war fantastisch, zu jener Zeit in Prag zu arbeiten. Ich kam aus Madrid, wo die ARD mit zwei Radio­korrespondenten in ruhigen Zeiten eigentlich überbesetzt war. Und in Prag kochten die Straßen!“ In solch bewegenden Tagen ergaben sich zwangsläufig Geschichten, die ihm zuhause aus den Händen gerissen worden seien.

Vorurteile abbauen
In den Folgejahren der Samtenen Revolution beruhigte sich die politische Lage. Sogenannte Pflichtbeiträge eines Journalisten, die Umstürze, Wahlen, Großdemonstrationen und andere Ereignisse von historischer Bedeutung abhandeln, wurden immer seltener. Vielmehr rückte der Alltag der Menschen, also Reportagen aus dem Leben der jahrzehntelang abgeschirmten Nachbarn, in den Vordergrund. Genau solche Geschichten sollten den Deutschen helfen, die Tschechoslowakei, später Tschechien und die Slowakei, besser zu verstehen.

„Prag, das sind ja nicht einfach nur Taxibetrüger und Touristenabzocke. Das ist es nicht, was die Stadt und erst recht nicht das Land Tschechien ausmacht“, gab Danko Handrick bei der Jubiläumsfeier zu bedenken. Vielmehr seien es die kleinen feinen Geschichten von normalen Bürgern, oft auch vom Lande, die die beiden Nachbarvölker einander näherbrächten. Handrick selbst steuert mit seinen TV-Beiträgen „Böhmische Dörfer, Geschichten aus Tschechien“ viel zu dieser Völkerverständigung bei.

Stefan Heinlein sendet seit dreieinhalb Jahren Radioberichte aus der Goldenen Stadt. Auch für ihn besteht ein besonderer Reiz seiner Arbeit darin, als Reporter bei den Menschen zu sein. „Hier kann ich selbst auf die Jagd nach Geschichten gehen“, erzählt der 48-Jährige. In Westdeutschland herrsche großer Nachholbedarf, es müssten noch immer viele Vorurteile abgebaut werden.

Er selbst nehme das Land und seine Bewohner als politisch zu zurückhaltend wahr. Er stuft dies auch als Spätfolge des Sozialismus ein. „Wo man doch durchaus stolz sein kann auf die vergangenen 25 Jahre, in denen man weitestgehend aus eigener Kraft eine erstaunliche Entwicklung durchmachte. Das demokratische Bewusstsein der Zivilbevölkerung wächst langsam“, so Heinlein.

Entscheidender Impuls
Diese Entwicklung erhielt im September 1989 mit den Ereignissen rund um die Deutsche Botschaft einen entscheidenden Impuls. Als Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon des Lobkowicz-Palais den DDR-Flüchtlingen ihre bevorstehende Ausreise verkündete, waren es die Berichterstatter des ARD-Studios, die mit ihren Bildern ganz Deutschland berührten und so ihren Teil zur politischen Wende beitrugen. Genscher sollte an der 50-Jahr-Feier als Gastreferent anwesend sein, musste aber aus gesundheitlichen Gründen absagen. Stattdessen erzählten die ehemaligen und aktuellen Korrespondenten Anekdoten aus fünf bewegenden Jahrzehnten.

Auf die Frage, welche Erlebnisse auf Jan Metzger und Stefan Heinlein während ihrer Tätigkeit in Tschechien und der Slowakei den stärksten Eindruck hinterließen, verwiesen beide auf ganz persönliche Erlebnisse und Begegnungen. „Die Lebensumstände der Roma in den slowakischen Ghettos sah ich mit eigenen Augen und sie haben mich zutiefst schockiert. Das ist dritte Welt mitten in Europa“, so Heinlein. Metzger äußerte sich positiver: „Das Bleibendste ist für mich wohl die Tatsache, dass meine in Tschechien aufgewachsene Tochter dem Land und der Sprache ein Leben lang verbunden sein wird.“ Auch sein allererstes Erlebnis, als Václav Havel im Dezember 1989 von einem Balkon zu zehntausenden Demonstranten sprach, prägte sich in sein Gedächtnis ein.

Die politischen Zeiten sind ruhiger geworden. Doch die Aufgabe, dem deutschen Fernseh- und Radiopublikum über eine kleine aber geschichtsträchtige Auslandsfiliale Tschechien und seine Menschen weiter ins Bewusstsein und zurück ins Herz Europas zu rücken, bleibt bestehen. Und so arbeitet man indirekt auch daran, dass in naher Zukunft kein ARD-Mitarbeiter in den Studios Hamburg, Berlin oder Köln mehr auf den Gedanken kommt, nach der Zeitverschiebung zu fragen.