„Betrüger? Nein, Überlebenskünstler!“

„Betrüger? Nein, Überlebenskünstler!“

Warum sich Kellner gegen Vorwürfe im Umgang mit Trinkgeldern wehren

15. 5. 2013 - Text: Klaus HanischText: Klaus Hanisch; Foto: APZ

„Heute war ein guter Tag“, sagt Josef weit nach Mitternacht, „ich habe sechs Kaffee auf meiner Rechnung. Das passt!“ Warum passen ihm sechs Kaffee? „Ganz einfach“, antwortet er, „weil ich heute mehr als 12.000 Kronen eingenommen habe.“ Und? „Mein Chef verlangt von mir, dass ich ihm stets einen Kaffee pro 2.000 Kronen auf meiner Rechnung bezahle. Da Gäste aber bei mir heute sowieso sechs Kaffee bestellt haben, muss ich mit meinen 12.000 Kronen Einnahmen nicht selbst noch welche zahlen.“

Welche Begründung hat der Chef für diese seltsame Regelung gegeben?
„Keine“, erwidert Josef, „er ist der Chef. Vielleicht hat er ja einen privaten Vertrag mit dem Kaffeehersteller geschlossen…“ Josef (Name von der Redaktion geändert) ist Mitte 30 und Kellner in einer der großen Bierstuben in der Prager Altstadt. Sie hat mehrere hundert Plätze, deshalb tragen dort ein Dutzend Kellner im täglichen Wechsel auf.

Das bedeutet für Josef, dass er nur 15 Tage im Monat arbeiten kann. Dafür erhält er ein Festgehalt von 430 Kronen am Tag. Macht im Monat nicht einmal 300 Euro. Davon muss er nicht nur regelmäßige Beträge für Kaffee abführen. Immer wieder gehen Gläser kaputt. Dafür werden ihm zehn Euro pro Monat abgezogen. Lassen Besucher Brezeln von den Tischen oder Nüsschen mitgehen, muss er dafür ebenfalls mit seinem Geld geradestehen.

An seinen freien Tagen einen zweiten Job anzunehmen, um mehr zu verdienen, ist praktisch unmöglich. Denn seine Schicht in der Kneipe geht meist über 14 Stunden. Und sie endet in der Hochsaison oft erst am frühen Morgen. „Deshalb bin ich dringend auf Trinkgelder angewiesen, um leben zu können“, erläutert der Mann, „vor allem in Prag.“ An guten Tagen kommt Josef mit diesen Zusatzgaben von Gästen auf 100 Euro. Davon muss er allerdings wiederum einen Teil an die Servicekräfte in der Küche abgeben.

Für den Chef
Josef glaubt nicht, dass Kellner in anderen Lokalen Prags bessere Bedingungen vorfinden. „Manche zahlen statt 430 Kronen ein Fixum von 600 Kronen am Tag, dafür behalten die Chefs aber das gesamte Trinkgeld für sich“, erläutert er. Immerhin sieht er einen Fortschritt. „Seit einiger Zeit steht auf vielen Rechnungen wie bei uns ganz konkret, dass Trinkgeld nicht im Preis enthalten ist.“ Das helfe ihm und seinen Kollegen. „Wenn ein Gast mit allem zufrieden war, dann finde ich es angebracht, dass er zehn Prozent für den Service gibt“, befindet Josef. Ein solcher Betrag erscheint manchem Besucher recht üppig, zumal Prag in den vergangenen Jahren immer teurer wurde. „Wir profitieren nicht davon“, lacht Josef bitter.

In einigen Restaurants der Prager Altstadt wird mittlerweile ein fester Trinkgeldsatz automatisch auf jede Rechnung addiert. Nicht sicher erscheint, ob Bediener dieses Geld auch bekommen oder ob es im Geldbeutel der Betreiber landet, wie es sehr oft in deutschen Gasthäusern der Fall ist. Dass Trinkgelder in Deutschland prinzipiell im Preis bereits enthalten sind, ist für Josef neu. Er weiß allerdings, dass Deutsche weniger Trinkgeld geben als andere Ausländer. Diese Erfahrung hat er auch während seiner Arbeitsjahre in Südeuropa gemacht. Viele Gäste waren dort spendabler als in Prag. Deshalb ist ein Job im Ausland für ihn nach wie vor ein Traum. Mancherorts gebe es sogar feste Prozentsätze für die Servicekräfte.

Auf Heller und Krone
Nicht bekannt ist ihm auch, dass in Deutschland oft noch vor betrügerischen Kellnern in Prag gewarnt wird. Ein Überbleibsel aus den neunziger Jahren, als etliche Lokale zwei Speisekarten für Einheimische und Ausländer mit unterschiedlichen Preisen bereithielten. Oder vor ihren Türen Schilder mit dem Hinweis platzierten: Pivo 15 Kronen, Bier 25 Kronen. „Das ist doch längst vorbei“, winkt Josef ab.

Trotzdem gibt der Eigentümer von Josefs Lokal auf seiner Speisekarte eine Art von Warnung an seine Gäste: „Zahlen Sie nur den Betrag, der auf dem Beleg steht“, ist am unteren Rand zu lesen. „Das stammt noch aus der Zeit, als es hier keine Kasse gab“, erklärt der Kellner. Immerhin hat ein Kollege von ihm schon einmal zehn Prozent handschriftlich unter einen Rechnungsbetrag aus der Kasse angefügt. „Vielleicht war es bei ihm pure Verzweiflung, weil er an diesem Tag so wenig Trinkgeld bekam“, sinniert Josef. „Natürlich gibt es auch schwarze Schafe, die bei Betrunkenen schnell mal den Bierpreis verdoppeln“, räumt er zugleich ein. Der Chef wollte diesen Kollegen damals nicht entlassen, weil er sofort eine neue Stelle finden würde, ihm aber dann Personal fehle. „Unsinn“, wehrt Josef mit einer Handbewegung ab, „Kellner bleiben umgekehrt oft nur einen Monat hier, weil sie mit ihrem Geld nicht klarkommen. Viele gehen derzeit in die tschechischen Gebirge, wo auch viele Touristen sind.“

Josef schildert seine Arbeitsbedingungen sehr nüchtern. Und er ist es auch. Josef trinkt stets nur Wasser aus der Flasche, die er aus einem nahe gelegenen Lebensmittelgeschäft mitgebracht hat. Denn all seine Getränke, die er während seiner Arbeitszeit in dem Lokal konsumiert, muss Josef ebenfalls auf Heller und Krone bezahlen.