Befreiung durch Idiotie
Anna Petrželkovás Inszenierung von Lars von Triers „Idioten“ im Švanda-Theater ist ein wahnwitziges Spiel mit Reizüberflutung
12. 3. 2014 - Text: Nina MoneckeText: Nina Monecke; Foto: Švandovo divadlo
Worin liegt der Wert einer Gesellschaft, die immer wohlhabender wird, aber kaum noch jemanden glücklicher macht? Diese Frage wie aus dem Parteibüchlein der Kommunisten ist auch der Leitgedanke Stoffers, dem Anführer und ideologischen Kopf von Lars von Triers „Idioten“. Mit der zivilisatorischen Entwicklung sei der Freiheitsgrad des Individuums zwar gewachsen, die meisten Menschen hätten jedoch völlig vergessen, wie sie die vielfältigen Möglichkeiten und Rechte ihres Lebens wahrnehmen können. Um den spießbürgerlichen Zwängen der Gesellschaft zu entkommen, fordert der Mittdreißiger zur Suche nach dem inneren Idioten auf. Diesen aus sich rauszulassen, den Zurückgebliebenen zu mimen, soll befreien. Spastiker sein, ist Luxus, so Stoffer.
Von Trier schockte und unterhielt mit diesem Ansatz vor rund 15 Jahren das internationale Kinopublikum. Sein erster Dogma-Film war eine aufwühlende Tragikomödie, die keinen kalt ließ und für hitzige Debatten sorgte. Nun bringt die tschechische Regisseurin Anna Petrželková den Stoff auf die Bühne des Švanda-Theaters.
Ein Idiot soll also in jedem von uns schlummern. Oder er sitzt direkt neben einem. So ergeht es dem Betrachter im Publikumssaal des Schauspielhauses in Smíchov. Erschütterndes Geschrei aus allen Ecken versetzt den Besucher noch vor dem ersten Akt mitten ins Geschehen. Raunen ist zu vernehmen, hier und da ein bizarres Lachen. Den Zuschauerbereich als Spielraum zu nutzen, ist zwar keine revolutionäre Idee, erweist sich in diesem Fall aber als eine gelungene Abwandlung der ursprünglichen Eröffnungsszene des Spielfilms von 1998 in einem Restaurant.
Die teilnahmslose Beobachterin Karen wird Zeugin einer Einlage der Idioten-Kommune. Zwei scheinbar behinderte Herren in Begleitung einer Betreuerin benehmen sich unziemlich und verletzen dabei die bürgerlichen Benimmregeln. Sie werden freundlich aber bestimmt des Etablissements verwiesen. Einer der Verjagten zieht Karen mit sich. Bald darauf wird sie in die Gemeinschaft der vermeintlichen Idioten aufgenommen. Sie tut sich jedoch schwer mit der ideologischen Integration, weicht vom schamlosen Tabubruch zurück.
Petrželková gestaltet ihre Karen um einiges offensiver als Lars von Trier. Wie in der Konzeption des dänischen Regisseurs bleibt sie – bis auf wenige Ausnahmen – die Außenseiterin der Gruppe. Zu sehr scheut sie davor zurück, sich auf das „Idiotsein“ einzulassen. In der Theateradaption kommt ihr aber viel eindeutiger und dringlicher die Rolle des mahnenden Gewissens zu. Die Frage, die sie sich stellt, ist viel banaler als all die soziologischen Rollenspielchen: Darf Gesellschaftskritik so weit gehen und sich über Behinderte lustig machen? Doch darum gehe es gar nicht, kontert Stoffer entschieden. Das Ausleben der Idiotie bringe lediglich zum Vorschein, was ohnehin im Inneren einer Person existiere. Ein intelligenter Mensch bewahre sich diese Eigenschaft.
Nervliche Zerreißprobe
Stoffers Erklärung wird in Petrželkovás Stück durch das authentische Spiel des Ensembles getragen. Das Mimen der Spastiker wirkt nie peinlich. Selbst die Gruppensex-Szene lässt einen nicht beschämt zu Boden schauen, obgleich sich wie auch in der Filmvorlage der schmale Grad hin zur Vergewaltigung nicht leugnen lässt.
So wie für einen Sozialarbeiter das Betreuen von acht ausgereiften „Idioten“ zu viel sein dürfte, so erweist sich auch für den Zuschauer das Stück als nervliche Zerreißprobe. Die gesamte Aufführung hindurch befinden sich sämtliche Schauspieler auf der Bühne – meist krakelend, sabbernd, sich auf dem Boden wälzend oder mit einem Gegenstand gegen den Kopf schlagend. Eine Atempause gibt es nicht. Zuviel für das gesetztere Publikum. In der Pause der Generalprobe lichteten sich die Reihen merklich. Dem Stück fehlt es an Sensibilität. Die Eindringlichkeit des Stoffes versinkt im wilden Getümmel der debilen Hemmungslosigkeit.
Das spartanische Konzept der Dogma-95-Filme, mit dem Lars von Trier und seine Mitstreiter gegen die Wirklichkeitsentfremdung des Kinos durch technische Effekte protestierten, hat Petrželková lediglich auf das schlichte Bühnenbild übertragen. Als musikalische Untermalung sind verzerrte psychedelische Klänge zu hören, die das wahnwitzige Spiel wunderbar unterstützen. Licht- und Videoinstallationen werden auf die Bühne projiziert und in die Handlung miteinbezogen, so dass hier ein klarer Bruch mit dem Dogma-Schema festzustellen ist.
Doch zurück zu unserer Idioten-Kommune. Was ursprünglich als Befreiungsakt begann, gipfelt in ein psychologisches Machtspiel des Fanatikers Stoffer. Alle Mitglieder sollen beweisen, wie ernst es ihnen mit dem provokanten Rollenspiel wirklich ist. Die ultimative Bewährungsprobe: Den Idioten draußen im realen Leben, im Beruf, in der eigenen Familie zu mimen. Dazu ist ausgerechnet und ausschließlich Karen bereit. Der Besuch im heimischen Wohnzimmer entlarvt ihre Geschichte. So befreit sie das Idiotenspiel letzten Endes tatsächlich. Nur nicht von den Zwängen der Gesellschaft, sondern von ihrem eigenen Schuldgefühl.
Idioti. Švandovo divadlo (Štefánikova 57, Prag 5), Dauer: 160 Minuten inklusive Pause, Eintritt: 120 CZK, Aufführung mit englischen Übertiteln, 21. März, 11. und 15 April, jeweils 19 Uhr
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