„Babiš ist eine Gefahr“
Die Bürgerbewegung „Milion chvilek“ organisiert Massendemos in Tschechien. Ihr Sprecher Benjamin Roll fordert mehr Demokratie – und den Rücktritt des Premiers
19. 6. 2019 - Interview: Klaus Hanisch, Titelbild: Martin Krchňáček (Demonstranten am Wenzelsplatz, 4. Juni 2019)
Benjamin Roll (24) will Pfarrer werden. Der Prager studiert seit 2014 evangelische Theologie, hat bereits den Bachelor-Titel und strebt nun einen Magister-Abschluss an. Auch wer seine Telefonnummer hat, erreicht ihn derzeit nicht auf Anhieb. Denn neben dem Studium kümmert sich Roll an vorderster Stelle um die Ziele der Bürgerbewegung „Milion chvilek“. Er meldet sich ein paar Stunden später per SMS und bittet um einen Rückruf am nächsten Tag. Dann hat er jedoch sofort Zeit für ein Treffen in einem Café nahe dem Prager Nationaltheater.
PZ: Laut Homepage umfasst der enge Kreis Ihrer Organisation nur zehn Mitglieder. Wie schafft es diese kleine Gruppe, so viele Demonstranten auf die Straßen zu bringen wie seit der Revolution von 1989 nicht mehr?
Benjamin Roll: Unsere Bewegung exisitiert seit etwas mehr als einem Jahr. Gegenüber anderen Organisationen zeichnen wir uns dadurch aus, dass wir kultiviert und positiv sein wollen, dass wir zuhören können und nicht Hass verbreiten. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass die Probleme rund um Premierminister Babiš eskalieren. Das veranlasst Menschen, sich unserem Protest anzuschließen. Die Demonstrationen begannen Ende April, danach gab es jede Woche ein Event. Immer mehr Leute kamen dazu – und sie luden wiederum immer mehr andere dazu ein. Mittlerweile unterstützen uns enorm viele Freiwillige, auch zahlreiche Leute in den tschechischen Regionen.
Sie öffneten also gleichsam das Ventil für eine breite Stimmung der Unzufriedenheit, die bei vielen Leuten vorhanden war.
Wir boten ihnen ein Forum an, um sich zu treffen und ihren Unmut darüber zu äußern, wie Politik bei uns derzeit abläuft. Und um zu sagen, das ist eine wirklich ernste Angelegenheit. Es reicht jetzt!
Sie fordern an erster Stelle den Rücktritt von Premier Babiš. Allerdings wurde er demokratisch in sein Amt gewählt.
Demokratie funktioniert nach Regeln. Wir haben kein Problem mit seiner Partei ANO, sie hat die Wahlen gewonnen und ist damit demokratisch legitimiert. Doch wer eine Wahl gewinnt, kann danach nicht automatisch machen, was er will. Babiš kooperiert mit Extremisten: Seine Regierung hängt am Tropf der Kommunistischen Partei, für manche Vorhaben braucht er sogar die Stimmen von Okamuras Leuten. Babiš geht es um die Macht. Seit der jüngsten EU-Wahl kritisiert er zudem viel mehr als früher die EU. Ich halte es für gefährlich, dass er immer öfter antieuropäische Meinungen im Volk bezüglich Gesetzen oder Flüchtlingen aufgreift und für seine Zwecke nutzt.
Ihre Rücktrittsforderung unterstreichen Sie durch strafrechtliche Verdachtsmomente.
Premierminister Babiš wird strafrechtlich verfolgt, die Polizei schlägt eine Anklage vor und einen Tag nach dieser Empfehlung wechselte er plötzlich den Justizminister aus – damit begannen unsere Demonstrationen. Außerdem steht er in Verdacht, in kommunistischer Zeit ein Agent des Geheimdienstes gewesen zu sein, schon prinzipiell eine schlimme Sache. Nun machte auch noch eine europäische Behörde darauf aufmerksam, dass staatliche Gelder in sein privates Unternehmen geflossen sein sollen. Das ist nicht zu akzeptieren und ein weiterer Mosaikstein, der den Unmut der Leute anfacht.
Zu Ihren Demonstrationen gehen sicher vor allem Leute, die Babiš sowieso nicht gewählt haben. Wie können Sie auf diese Weise seinen Rücktritt erzwingen?
Wir wissen, dass Babiš zu der Gattung von Politikern gehört, die niemals von sich aus zurücktreten werden. Er genießt seine Macht und seinen Einfluss in seinen Unternehmen, seinen Medien, in der Diplomatie und der Öffentlichkeit. Aber der Druck auf ihn steigt, nicht nur durch die Straße, sondern von vielen Seiten – und das macht ihn sichtlich nervös. Er macht Fehler in seinen öffentlichen Reden, seine öffentlichen Auftritte wirken nicht mehr souverän. Ein großes Ziel von Babiš war immer, populär zu sein. Auch in westlichen Ländern. Und dieses Ansehen hat er verloren. Das macht ihm zu schaffen, auch wenn er so tut, als ob es ihm egal wäre.
Fürchten Sie, dass sich die Tschechische Republik wie Ungarn oder Polen entwickeln könnte?
Genau das wollen wir verhindern! Wir haben aber im Gegensatz zu diesen Ländern ein besseres und hoffentlich sicheres politisches System. Unsere Institutionen sollten stark genug sein, unsere Verfassung zu schützen. Große Veränderungen bedürfen der Zustimmung des Abgeordnetenhauses, aber auch des Senats. Ungarn hat das nicht und dort war es viel einfacher, tiefere Veränderungen nach den Wahlen zu schaffen. Und viel schneller.
Wird Babis auch kein neuer Orbán oder Kaczyński?
Andrej Babiš ist kein Ideologe, er ist Pragmatiker. Er macht das, von dem er glaubt, dass die Leute es wollen. Und seine Wähler sind keine fanatischen Anhänger. Sie wissen, dass er nicht die ideale Besetzung auf dem Regierungssessel ist, aber sie sehen keine Alternative zu ihm. Babiš hat nur gewonnen, weil viele Menschen in unserem Land gegenüber den politischen Verhältnissen resigniert haben. Besonders die Zusammenarbeit zwischen Václav Klaus und Miloš Zeman in den neunziger Jahren hat vieles kaputt gemacht [gemeint ist der von 1998 bis 2002 geltende Oppositionsvertrag zwischen ODS und ČSSD – Anm. PZ]. Sie haben gegen die Zivilgesellschaft gearbeitet, schlechte Stimmung und Probleme erzeugt. Die Menschen sind seitdem enttäuscht von der Politik. Was sie nicht im Blick haben: Babiš war in der Vergangenheit stets Teil jenes Systems, das sie so mürbe gemacht hat. Denn als Unternehmer und einer der reichsten Männer des Landes war er mit unseren damaligen Politikern zu allen Zeiten eng verbunden. Das wissen viele überhaupt nicht, zumal er sich immer als „der Neue“ präsentierte. Die Gesellschaft hat ihn zuvor nicht sonderlich beachtet.
Haben Sie eine politische Alternative zu Babiš?
Wir wollen, dass es vor allem eine starke Zivilgesellschaft mit aktiven Bürgern gibt. Und damit das genaue Gegenteil von Babiš, der alles allein tun will. Sie soll neue Politiker hervorbringen, möglichst auch neue Bewegungen und Organisationen. Wir wollen Druck auf die politischen Oppositionsparteien ausüben, ihre Kämpfe untereinander zu beenden. Denn die sind so irrelevant angesichts der Gefahren, die um uns herum lauern. Wir wollen, dass denen mehr auf die Hände geschaut wird, die Macht haben. Das muss sich dringend ändern. Denn wir alle haben Verantwortung für dieses Land, jeder in seinen Aufgaben. Und wir müssen zusammen sprechen und arbeiten.
Geht es also nicht nur um die Person Babiš, sondern schon um die Demokratie generell?
Das ist der entscheidende Punkt, warum wir das alles machen. Es ist uns in all den Jahren seit der Revolution nicht gelungen, eine wirklich funktionierende Zivilgesellschaft aufzubauen. Babiš hat auch deshalb gewonnen, weil er sagte: Kümmert euch um nichts, ich manage das schon für euch. Das hilft einer demokratischen Gesellschaft jedoch in keinster Weise. Jeder muss sich auf seine eigene Art kümmern. Deshalb haben wir die Kampagne „Eine Million Augenblicke für die Demokratie“ genannt. Wir sagten uns: Wenn jede Person nur einen kleinen Augenblick für die Demokratie findet und aufbringt, dann ist das genug, um etwas ändern zu können.
Wie begann diese Bewegung?
Mikuláš Minář, gleichsam der Kopf unserer Bewegung, sprach mich nach den Parlamentswahlen von 2017 in der Fakultät an. Wir kannten uns aus der Schulzeit und waren uns einig, dass Studenten ab sofort etwas tun müssten. Er wusste, dass ich in der evangelischen Kirche aktiv mitarbeite und auf Facebook auch politische Ansichten vertrat. Wir stellten dann mit fünf anderen die erste Petition auf die Beine und fanden dafür sofort 100 Unterschriften unter Studenten. Dann wollten immer mehr Leute mitarbeiten. So wurde aus der anfänglichen Studentenbewegung eine Bürgerbewegung.
Ähnlich begann die Revolution von 1989. Ihre letzte Petition haben fast 400.000 Menschen unterschrieben, darunter nicht wenige, die schon die Charta 77 unterzeichneten. Wird sie eine neue Charta 77?
Das waren andere Zeiten. Es herrschte ein totalitäres Regime unter dem es gefährlich war, seine Unterschrift zu geben. Heute ist der öffentliche Diskurs ein Teil der Demokratie. Wir wollen Leute zusammenbringen, die wissen und sehen, dass etwas gewaltig schiefläuft. Wichtig ist, dass es nun auch Demonstrationen außerhalb Prags in kleineren Städten gibt – erstmals seit der Samtenen Revolution 1989.
Sie wollen eine Million Unterschriften erreichen. Ein sehr ambitioniertes Ziel.
Eigentlich war es ein PR-Gag, dass wir eine Million Unterzeichner nach 100 Tagen haben wollten. Doch zu diesem Zeitpunkt hatten wir dann plötzlich schon 350.000. Deshalb haben wir diese Unterschriftenaktion fortgesetzt. Nach der ersten Demonstration bekamen wir zudem Spenden. Das hat uns sehr überrascht, aber auch gezeigt, dass wir bereits Verantwortung tragen und die Menschen wollen, dass wir weitermachen. Wir wollen jetzt verdeutlichen, dass alle Verantwortung für unsere Gesellschaft haben, und deshalb Kontakte untereinander aufbauen, Demos veranstalten und Leute aktivieren, E-Mails und Infos teilen.
Haben Sie Babiš mal persönlich getroffen?
Ja, wir haben ihm am 17. November 2017 [dem „Tag des Kampfes für Freiheit und Demokratie“, der an die Proteste 1939 und 1989 erinnert – Anm. PZ] unsere Petition am Denkmal in der Nationalstraße überreicht. Darin forderten wir ihn auf, seine Wahlversprechen einzuhalten und die Demokratie in unserem Land weiterzuentwickeln. Er lud uns ein, hinter verschlossenen Türen darüber zu sprechen. Das lehnten wir ab, wir wollten immer öffentliche Antworten und ein öffentliches Treffen. Nach 100 Tagen war uns klar, dass Babiš keinen Dialog will. Da hatten aber schon viele Tausend Menschen unsere Petition unterschrieben.
Wir haben Andrej Babiš den Studenten-Aufruf überreicht.
Nimmt er sich einen Augenblick Zeit dafür? https://t.co/NQAb0ULFPo pic.twitter.com/CwraH8dvtq— Benjamin Roll (@BenjoRoll) 17. November 2017
Bekommen Sie mittlerweile Druck von politischer Seite?
Der Sprecher von Präsident Zeman nannte uns „unfertige Studenten“. Wie könnten wir es wagen, ohne Stimmen und ohne Wähler so in der Öffentlichkeit aufzutreten, wurde uns vorgehalten. Auch sollten wir uns nicht als Messias fühlen und würden zudem „eine Million Augenblicke Hass“ verbreiten. Zunehmend gibt es Desinformationen, Fake News im Internet, auch so was wie Bedrohungen. Vor allem der Druck auf Mikuláš Minář nimmt zu, sein Gesicht ist mittlerweile bekannt. Auch ich habe böse Mails und Nachrichten bekommen. Am Anfang wollte ich noch mit diesen Leuten diskutieren, doch ich habe bald gemerkt, dass das zwecklos ist.
Und wie berichten die heimischen Medien über Ihre Aktionen? Gerade die „Babiš-Medien“ werden darüber kaum begeistert sein.
Am Tag nach der ersten großen Demonstration druckte die „MF Dnes“ Eishockey auf der Titelseite … Die letzte Großdemo mit weit über 100.000 Teilnehmern auf dem Wenzelsplatz konnten sie allerdings nicht mehr ignorieren, die kam dann auf den Titel. Allerdings schrieben sie nicht sehr positiv darüber.
Auf Ihrer Website geben Sie zwar die Adresse von „Milion chvilek“ in Strašnice an, nicht aber eine Telefonnumer. Ist das zu gefährlich geworden?
Wer Kontakt zu uns aufnehmen will, kann die angegebene E-Mail-Adresse nutzen. Darüber kommen schon täglich so viele Nachrichten ein, dass sie von unseren Leuten im Büro kaum zu bewältigen sind.
Bekommt Ihre Organisation Unterstützung aus dem Ausland oder von anderen tschechischen Vereinen?
Aus dem Ausland nicht. Doch tschechische Organisationen stehen uns zur Seite, zum Beispiel mit Helfern. Vor allem unterstützen uns jedoch Bürger, zuletzt auch mit immer mehr Geld. In den letzten drei Wochen haben sie rund vier Millionen Kronen [umgerechnet rund 160.000 Euro – Anm. PZ] auf unser Konto gespendet. Damit können wir die großen Demos veranstalten, für ausreichend Technik und die nötige Sicherheit sorgen. Viele Bürger helfen uns auch als Freiwillige.
In den nächsten beiden Monaten liegt Tschechien brach und seine Bürger in Strandkörben. Wird es danach einen „heißen Herbst“ geben, wie 1989?
Was wir genau planen, werden wir noch bekanntgeben. Aber sicher ist, dass es nach den großen Ferien weitergehen wird.
Ist das Ziel der Bewegung erreicht, wenn Babiš als Regierungschef zurücktritt?
Ich glaube nicht, dass die Proteste dann zu Ende sein werden. Andere kommen nach ihm. Man muss abwarten und genau beobachten, wer das sein wird. Die Parole lautet: Babiš darf sich nie mehr wiederholen!
Laufen Sie und Ihre Mitstreiter Gefahr, sich irgendwann wie ein neuer „kleiner Havel“ zu fühlen bzw. mit dieser großen Persönlichkeit verglichen und in eine ähnliche historische Rolle gedrängt zu werden?
Für jemanden, der bekannt ist, etwas bewirkt und eine gewisse Macht hat, besteht immer eine Gefahr. Auch die, jemanden nachzuahmen, egal ob Havel oder Babiš. Wir wollen niemand sein und nicht so denken. Demokratie ist für uns das Gegenteil von dieser Denkweise. Eine demokratische Gesellschaft zeichnet aus, dass Leute nicht perfekt sind, dass Macht geteilt werden muss – und dass sie kontrolliert wird. Ich persönlich mag Havel, aber es ist immer riskant und gefährlich, eine Person und eine Bewegung in einen Topf zu werfen. Es geht um die Bewegung, um ihre Ziele und nicht um Personen.
Sehr geehrter Herr Roll,
im Prinzip haben Sie recht wenn Sie sagen, dass jemand nicht machen kann was er will, nur weil er gewählt wurde. Wenn Sie jedoch annehmen, dass irgendeinem Politiker- und ganz besonders jenen die im EU – Parlament sitzen, das Wohl des Volkes wichtiger sei, als sein persönliches, sind Sie auf dem Holzweg. Ich stimme mit Ihnen sogar darin überein, dass mit dem Verschwinden des kommunistischen Systems- übrigens gleich wie in den neuen Deutschen Bundesländern viele Leute zu überraschendem Reichtum gekommen sind. Nur bitte ich Sie auch zu bedenken dass es bei Weitem nicht mit dem Austauschen einer Person automatisch zur Folge hätte dass das ganze System fundamental besser würde. Und Herr Zeman ist für Tschechien im Moment, so wage ich zu behaupten, ein guter Präsident. Die Wirtschaft floriert und das Land hat die niedrigste Arbeitslosenquote in Europa. Und nur des Destabilisierens willen eine funktionierende Regierung ablösen zu wollen, bringt mehr Turbulenzen als Beruhigung was sich am Beispiel Ihres Nachbarlandes, der Republik Österreich aktuell sehr gut zeigt. Dort war zwar der Grund der Auflösung der Regierung ein anderer, aber das Ergebnis ist auch nicht gerade berauschend.
Ich möchte Ihnen zur Besonnenheit raten, geniessen Sie Ihr wunderschönes Land, seine Leute und Traditionen und wenn ich irgendwann in Prag bin, wer weiss, vielleicht können wir ein gutes Bier zusammen trinken und etwas diskutieren.
Einen angenehmen Abend für Sie,
Pekny večer,
Gerhard