Aus der Zeit gefallen

Aus der Zeit gefallen

 Die Stadt Hlinsko in der Böhmisch-Mährischen Höhe erhält ihre Volksarchitektur aus dem 18. Jahrhundert

12. 12. 2012 - Text: Yvette PolášekText: Yvette Polášek; Foto: Stadt Hlinsko

 

Wer nach Betlehem fahren möchte, der muss nicht zwangsläufig eine Reise in den Nahen Osten antreten. Auch hierzulande gibt es eine Stadt – genauer: einen Stadtteil – mit dem geschichtsträchtigen Namen. In der Böhmisch-Mährischen Höhe, vielen auch als Region Vysočina bekannt, liegt das etwa 10.000 Einwohner zählende Städtchen Hlinsko. In dessen Herzen befindet sich Betlehem (Betlém), der historische Kern der Stadt.

Besucher staunen oftmals über die erhaltene Holzarchitektur des Viertels, die einen so starken Kontrast zu modernen Bauten setzt. Die kleinen hölzernen Bauernhäuser, die dem Umbau der letzten Jahrzehnte entronnen sind, haben sich heute zu einem regelrechten Touristenmagneten entwickelt.

Neues Leben
Betlehem besteht aus einer Siedlung gezimmerter Häuschen, die Ende des 18. Jahrhunderts am rechten Ufer des Flüsschens Chrudimka von lokalen Handwerkern errichtet worden sind. Seinerzeit standen sie so dicht beieinander, dass man die Gassen zwischen den Holzhütten kaum passieren konnte.

Ursprünglich lebten hier vor allem Töpfer. Als ihr Handwerk zunehmend weniger eintrug, wandten sich die meisten von ihnen der Weberei zu. Andere widmeten sich der Spielzeugherstellung, dem Schuster- und Klempnerhandwerk oder der Kürschnerei. Erst während der späteren Stadtentwicklung tauschten viele Einwohner das traditionelle Handwerk gegen eine feste Anstellung als Fabrikarbeiter ein. Das Städtchen entwickelte sich allmählich zu einer Industriestadt. Die Expansion beschleunigte sich nach 1871, als Hlinsko an die Eisenbahnlinie angeschlossen wurde. Trotz der fortschreitenden Modernisierung blieben jedoch viele traditionelle Hütten mit ihrer ursprünglichen Ausstattung bis heute erhalten.
Dank einiger Idealisten gelang es, den historischen Stadtteil, der seit 1995 unter Denkmalschutz steht, zu bewahren und das alte, traditionelle Handwerk wiederzubeleben. In Gestalt von Ausstellungen und einem in die Stadt integrierten Freilichtmuseum wird die Vergangenheit lebendig.

„Bereits vor 25 Jahren waren ich und meine Kollegin  felsenfest davon überzeugt, dass der Stadtteil Bethlehem außergewöhnlich ist. Und dass sich jede Mühe lohnt, für seine Erhaltung mit aller Kraft zu kämpfen“, erzählt Magda Křivanová, heutige Bürgermeisterin von Hlinsko. „Ich freue mich sehr, dass all die Arbeit, die wir seit Ende der achtziger Jahre investiert haben, in diesem Jahr fast zur endgültigen Rekonstruktion dieser Volksarchitektur geführt hat. Nur noch wenige Häuser, die sich in Privatbesitz befinden, müssen renoviert werden.“ Und mit einem Lachen fügt sie hinzu: „Jetzt liegt nur noch der angenehme Teil vor uns: gemeinsam mit Kollegen ein interessantes Programm für die Besucher von Hlinsko zu erstellen.“

Blick in die Stuben
Heute können wieder die alten Wohnstuben in den Holzhütten besichtigt werden. Sie waren stets einfach und bescheiden, zugleich aber praktisch ausgestattet. Besucher spazieren hier vom Häuschen einer Weberfamilie zu einer traditionellen Schusterwerkstatt, um im Anschluss einen Blick in die Stube des Spielzeugmachers zu erhaschen. Holzspielzeug blickt auf eine lange Tradition in der Region – so ist die typische Holzpuppe (dřevěná panenka) von hier nicht wegzudenken.

In Haus Nr. 178 kann man den letzten erhaltenen Töpferofen erkunden und ein wenig weiter, in Haus Nr. 362, befindet sich eine Dauerausstellung über Faschingsmasken und Karnevalsumzüge in der Region. Die feierlichen Umzüge wurden 2010 zum immateriellen UNESCO-Kulturerbe ernannt. In die gut erhaltenen „chalupy“ (Hütten) ist nach umfangreicher Renovierung wieder Leben eingekehrt,     So können sich Besucher auch in einem Wirtshaus oder in einer Zuckerbäckerei beköstigen lassen.

Ein Wintermärchen
Besonders im Winter hat man das Gefühl, sich hier im tschechischen Betlehem in einem Märchen zu befinden. Wenn der erste Schnee Häuser und Landschaft in seine weiße Decke hüllt, dann erinnert die Stadt an längst vergangene Zeiten. An jene Tage, in denen die Welt zur kalten Jahreszeit noch in einen Winterschlaf fiel. Nur aus den Rauchfängen der verschneiten Häuser stieg dann Rauch auf.

Heute strahlt das Holz, aus dem die Häuschen gezimmert wurden, eine unverfälschte Atmosphäre aus. Wer einen Spaziergang durch Betlehem unternimmt, der fühlt sich, als sei er aus der Zeit gefallen. Es reicht, kurz anzuhalten und sich die Erzählungen unserer Großmütter und -väter in Erinnerung zu rufen. Geschichten von frisch gebackenen Weihnachtsplätzchen, von besinnlichen Familienabenden in der warmen Stube oder von Frauen, die Federn rupfen oder sich ihren Lebensunterhalt am Webstuhl verdienen. Wie kaum ein anderer Ort scheint Betlehem prädestiniert für einen Rückzug vom Trubel der modernen Welt, für eine Reise in die Vergangenheit.

Besonderen Charme hat der Stadtteil im Advent, wenn die Häuser geschmückt werden, als wolle man ihnen ein Festtagskleid überziehen. Das geschieht auf so natürliche Weise, dass man nie das Bewusstsein für die bescheidenen Verhältnisse vor rund einhundert Jahren verliert. Mit einfachen Mitteln wie Äpfeln und Dörrobst sowie traditionellem Weihnachtsgebäck werden die Häuser und Stuben dekoriert, ganz so, wie es seit jeher in der Region Weihnachtsbrauch ist.

Touristeninformation Hlinsko (Turistické informační centrum Hlinsko), Betlém 561, Hlinsko, Tel. 469 312 349, www.hlinsko.cz

Veranstaltungen und Ausstellungen

Dauerausstellung ländlicher Faschingsumzüge und Masken (Stálá expozice vesnických masopustních obchůzek a masek), Betlém Nr. 362, Hlinsko

Ausstellung „Spielzeug unserer Väter“ (Hračky našich tatínků), Stadtmuseum Hlinsko, bis 6. Januar 2013

Weihnachtskrippe (Betlém vánoční), Hlinsko, Ausstellung in allen gezimmerten Objekten des Stadtteils Betlém – volkstümliche Krippen, traditionelles Gebäck, einzigartige mechanische Krippe von Rudolf Frinta, 11.–30. Dezember (außer 24./25. Dezember)

Lebendige Weihnachtskrippe nahe Centrum Jana XXIII., Hlinsko, 25. Dezember