Aus dem Land der verborgenen Geschichten

Aus dem Land der verborgenen Geschichten

Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko spricht in Prag offen über die Nachteile ihres Berufs

17. 10. 2012 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert; Foto: Ivan Put

 

„Noch nicht einmal außer Landes habe ich meine Ruhe vor dem ganzen ukrainischen Trubel.“ Außer Atem erscheint Oksana Sabuschko 20 Minuten zu spät zum Interview. Als Treffpunkt hatte die Schriftstellerin das Café der Neuen Bühne neben dem Nationaltheater vorgeschlagen. Eilig läuft sie auf mich zu; in ihrer Rechten noch das Telefon, das sie bis jetzt in Anspruch genommen hatte. Mit einem Lächeln auf den Lippen schimpft sie über ihre Popularität, ihre „zweite mediale Identität“, die auch zu einer Last geworden ist. „Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich gelernt hatte, dass ich nun eine öffentliche Person bin und mich nicht mit dieser von den Medien kreierten Version meines Selbst identifizieren darf. Hat man sie erst einmal angenommen, bedeutet das den Untergang für die individuelle Persönlichkeit eines Schriftstellers.“

Sozusagen über Nacht wurde Sabuschko 1996 mit ihrem Roman „Feldstudien über ukrainischen Sex“ berühmt, der bereits vor seiner Veröffentlichung in Form zahlreicher Raubkopien kursierte. Die Geschichte über den alltäglichen Niedergang einer Liebe, in der sie zugleich die Geschichte ihres Landes, gespiegelt im Verhältnis zwischen Mann und Frau, durchexerziert, machte Sabuschko zu einer der bedeutendsten Autorinnen der Ukraine. Seit über zehn Jahren führt das Buch die Bestsellerlisten an und ist damit das erfolgreichste Buch, das je auf Ukrainisch erschienen ist. Seitdem kann die Autorin kaum noch unerkannt durch die Straßen Kiews laufen. Auch jetzt, da sie für einen Monat als Stipendiatin des „Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren“ in der tschechischen Hauptstadt weilt, dringen die Stimmen aus der heimatlichen Ferne zu ihr durch. Permanent erhält sie Anrufe, E-Mails und Kurznachrichten – sie möge sich doch bitte zu den anstehenden Parlamentswahlen in der Ukraine am 28. Oktober äußern.

Mit Geschichte(n) aufräumen
1960 in Luzk im Nordwesten der Ukraine geboren, studierte und promovierte Sabuschko am Philosophischen Institut der Universität in Kiew. Als Fulbright-Stipendiatin lehrte sie in den Neunzigern Ukrainische Literatur an den amerikanischen Universitäten Harvard und Pittsburgh. Ihr Debüt als Schriftstellerin gab sie Mitte der achtziger Jahre mit dem Lyrikband „Raureif im Mai“. Es folgten weitere Gedichtbände, Erzählungen und politisch-philosophische Studien. Zuletzt in deutscher Übersetzung erschien ihr Essay-Band „Planet Wermut“, eine Anthologie gesellschaftskritischer Beiträge, die sich vor allem mit Vergangenheit und Gegenwart ihres Landes auseinandersetzen.

Sabuschko wurde nie müde, die Verhältnisse in ihrer Heimat kritisch zu beleuchten. Sie ist der Stachel im Fleisch der Ukraine, diesem doch noch jungen Staat, der sein Trauma fortwährender Fremdbestimmung nie hat überwinden können. „Mein Land hat eine sehr komplizierte und tragische Geschichte hinter sich und ringt noch immer um seine Identität. Während die Tschechen Masaryk hatten, hatten wir Stalin.“ Beständig prangert Sabuschko die korrumpierte Moral der vorherrschenden Schichten an; mit der ehemaligen Nomenklatura wurde nie wirklich aufgeräumt. Heute sei die Ukraine zum „Mülleimer Europas“ geworden, vollgestopft mit all den korrupten Geschäften Europas. Auf der anderen Seite der Grenze lauert der Riese Russland – wenn er die Ukraine auch nicht zurückhaben wolle, so hege Moskau doch genuinen Anspruch auf den Nachbarn im Westen. Im Sumpf dieser Machenschaften und Verwicklungen schwimmt „das Land der verborgenen Geschichten – drei Generationen des kulturellen Schweigens, die frei geschaufelt werden müssen. Die Ukraine ist die große Unbekannte in Europa.“

Literarischer Kompass für die Ukraine
Sabuschko betrachtet es auch als ihre Aufgabe, bei einer sorgfältigen, literarischen Erschließung ihres Landes mitzuhelfen. Ein Land, „das noch Kompass und Karte für Fremde benötigt, um verstanden zu werden“. Obschon Sabuschko als Lyrikerin begann, fühlt sie sich in verschiedenen Sprachen der unterschiedlichen Genres gleichermaßen zuhause. „Ich tanze sozusagen auf drei Hochzeiten gleichzeitig.“ Derzeit dominieren zwar Erzählliteratur und Sachbücher, doch auch Gedichte dringen nach wie vor an die Oberfläche ihres Wörtermeeres: „Es kommt ein Zeitpunkt in der Entwicklung eines Schriftstellers, da Poesie nicht mehr ausreicht. Die Erlebnisse rufen dann nach einem anderen Typ des Erzählens. Um Gedichte zu schreiben, muss man nicht sonderlich erfahren sein oder viel über die Welt wissen. Sie drehen sich eigentlich immer um Liebe und Tod und wollen ganz intuitiv den Klang der Welt einfangen. Prosa hingegen verlangt nach Erfahrung, einem gewissen Alter und Reflektiertheit.“

Ein Korridor von der Kindheit ins Jetzt
Während des Interviews klingelt immer wieder das Telefon der Schriftstellerin. Nach mehr als einer Stunde unterbrechen wir für einige Minuten das Gespräch. Sabuschko muss zurück zur Wohnung. Bevor sie das Haus verließ, hatte sie in morgendlicher Eile zwischen zig Telefonaten versehentlich ihren Gatten eingesperrt; sein Schlüssel war mit dem Telefon in ihrer Tasche verschwunden. Auf die Frage, wann sie bei all den Terminen eigentlich zum Schreiben komme, antwortet sie mit funkelnden Augen: „am nächsten Tag“. Prag genießt sie trotz aller Verpflichtungen, die das Stipendiaten-Dasein mit sich bringt. „Am zweiten Tag nach meiner Ankunft kaufte ich mir Hrabals „Allzu laute Einsamkeit“, ein wundervolles Buch, das mich sehr berührt hat. Ich folgte der Geschichte des Erzählers, seinen Wegen durch die Stadt, denen ich ja nun auch ganz physisch nachgehen konnte. Es war, als wäre Hrabal bei mir gewesen, als hätte ich seinen Geist fühlen können. So habe ich viele Geschichten in der Stadt gespürt. Wände allein sprechen ja nicht.“

Mit tschechischer Literatur wurde die Ukrainerin schon früh bekannt. Ihr Vater lehrte an der Universität und übersetzte Bücher aus dem Tschechischen ins Ukrainische. Zuhause las er oft aus den Erzählbänden vor, während die kleine Oksana zwischen gedecktem Tisch und Sofa spielte. So lernte sie Čapeks „Geschichten aus der einen und der anderen Tasche“ kennen, die ihr nicht nur in der Jugend ein ständiger Begleiter waren. Mit der Erinnerung an diese Jahre reisten auch die vorgelesenen Geschichten mit nach Prag. „Sie bilden einen Korridor, von meiner Kindheit bis ins Hier und Jetzt. Und mit ihnen trug ich meinen Vater bei mir, der ja nie andere Länder bereisen konnte.“ Er wäre gewiss stolz gewesen, hätte er seine Tochter in der vergangenen Woche im Café Frau in Vinohrady bei ihrer Lesung erlebt. Dicht gedrängt hatte sich das Publikum um die Schriftstellerin versammelt, klebte förmlich an ihren Lippen und entließ sie erst spät, nach unzähligen Fragen, in die verzauberte Nacht der Stadt.

Oksana Sabuschko: Planet Wermut, Literaturverlag Droschl, Graz 2012, 168 Seiten, 19,00 Euro, ISBN 978-3-85420-795-5