Aus Angst wird Hoffnung

Aus Angst wird Hoffnung

Nach dem Wegfall der Arbeitsmarktbeschränkungen sind Tausende Tschechen nach Deutschland gekommen. Deutschen Wirtschaftsverbänden sind das viel zu wenige

17. 7. 2013 - Text: Marcus HundtText: mh/čtk; Foto: Herbert Käfer/pixelio.de

Sieben Jahre lang hatte Deutschland seinen Arbeitsmarkt gegenüber Tschechen, Polen, Slowaken oder Ungarn abgeschottet. Zu groß war die Befürchtung, dass der deutsche Arbeitsmarkt einem „Ansturm“ der Bürger aus den Staaten, die im Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten waren, nicht gewachsen sein könnte. Das Argument seitens der Bundesregierung, die ausländischen Arbeitskräfte würden zu einer erhöhten Arbeitslosigkeit unter der heimischen Bevölkerung führen, hat sich inzwischen als unbegründet herausgestellt. „Die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes war gut, aber ist eindeutig zu spät erfolgt“, meint Achim Dercks von der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK).

Gemeinsam mit Österreich erlaubte es Deutschland den neuen EU-Bürgern erst im Jahr 2011, unter den gleichen Bedingungen eine Beschäftigung aufzunehmen, die auch für die eigenen Staatsangehörigen gelten. Damit nutzten beide Länder die von Brüssel gewährte Übergangsfrist von sieben Jahren voll aus. Nach Ansicht des stellvertretenden DIHK-Hauptgeschäftsführers Dercks war das ein Fehler, der nicht mehr zu beheben sei. „Andere Staaten profitieren nun langfristig davon, dass sie von Beginn an qualifizierte Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedsstaaten aufgenommen haben; Deutschland hat das Nachsehen“, sagt Dercks. Gerade im Gesundheits- und Pflegewesen, in technischen Berufen und im Gastgewerbe herrsche ein großer Personalbedarf, den es in diesem Maße heute gar nicht geben müsste.

Seit dem Wegfall der Arbeitsmarktbeschränkungen im Mai 2011 hätten laut der Bundesagentur für Arbeit etwa 10.000 tschechische Staatsbürger eine Anstellung in Deutschland gefunden. Ende vorigen Jahres arbeiteten knapp 27.200 Tschechen in der Bundesrepublik. Von den Staaten, die 2004 der EU beigetreten sind, belegt die Tschechische Republik damit hinter Polen (219.703) und Ungarn (45.069) den dritten Rang. „Derzeit wird viel über die Krisenländer Spanien, Italien oder Portugal gesprochen. Dabei sind die Zahlen der benachbarten osteuropäischen Staaten weitaus höher, ohne dass dies irgendwelche Diskussionen oder Probleme hervorgerufen hätte“, ergänzt Dercks.

Vor der Öffnung des Arbeitsmarktes waren die deutschen Behörden noch davon ausgegangen, dass pro Jahr 180.000 Bürger der neuen EU-Mitgliedsstaaten aus Mitteleuropa und dem Baltikum nach Deutschland kommen würden. Weit gefehlt: Denn diese Anzahl war erst nach über zwei Jahren der uneingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit erreicht worden.
Azubis gesucht
Überwog bei vielen Deutschen früher noch die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen, setzen berufsständische Körperschaften heute große Hoffnung in die Bürger der östlichen Nachbarstaaten. Vor allem der Fachkräftemangel und die mangelnde Nachfrage nach Ausbildungsplätzen hat sich für die deutsche Wirtschaft zu einem Problem entwickelt. Bundesweit blieben im zurückliegenden Jahr mehr als 70.000 Lehrstellen unbesetzt. „Die unbesetzten Ausbildungsplätze sind ein echtes Problem. Wenn wir nichts tun, fehlen uns schon in zwölf Jahren sechs Millionen Arbeitskräfte. Diese Frage ist genauso zentral wie die Energiewende, über die derzeit so viel diskutiert wird“, sagte Eric Schweitzer, Chef der deutschen Industrie- und Handelskammern, vor wenigen Tagen der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

Die Handwerkskammern wollen diesem Problem unter anderem damit begegnen, dass sie sich gezielt an junge Schulabgänger aus den Nachbarländern Polen und Tschechien wenden. Die bisherigen Zahlen fallen jedoch ernüchternd aus: Laut dem Zentralverband des Deutschen Handwerks, dem 53 Handwerkskammern und 36 Zentralfachverbände angehören, sind seit der Arbeitsmarktöffnung vor zwei Jahren nur etwa 80 Tschechen in Deutschland als Auszubildende eingestellt worden.

Die meisten von ihnen haben eine Lehrstelle in Bayern gefunden. „Der Hauptgrund, warum nur wenige junge EU-Bürger zur Berufsausbildung nach Deutschland kommen, besteht in den unzureichenden Sprachkenntnissen“, meint Julia Stegmann-Schaaf von der Handwerkskammer Dresden. Diese Hürde kann zwar mit einer stärkeren Förderung der deutschen Sprache im Ausland verringert werden. Möglich sei laut Achim Dercks eine Arbeitsmigration von 15 Prozent. Man dürfe sich aber nicht auf den Nachwuchs aus anderen Ländern verlassen. „Viel wichtiger ist es, unser eigenes Potential hier in Deutschland besser auszunutzen“, sagt Dercks, auch mit Blick auf eine bessere Integration von Müttern und älteren Menschen in den Arbeitsmarkt. 

Arbeitermigration nach Deutschland

•    Die Beschäftigung von Personen mit einer Staatsangehörigkeit eines der acht Staaten, für die seit 1. Mai 2011 die uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt, hat im April gegenüber dem Vorjahr um 75.000 oder 23 Prozent zugenommen.

•    Die Beschäftigung von Staatsangehörigen aus Bulgarien und Rumänien, für die bis Ende dieses Jahres eine beschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt, ist um 27.000 oder 24 Prozent gestiegen.

•    Im selben Zeitraum erhöhte sich die Beschäftigtenzahl von Personen mit einer Staatsangehörigkeit aus Griechenland, Italien, Portugal und Spanien um 35.000 oder 8 Prozent.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Juni 2013