Gefangene im Eis

Gefangene im Eis

Als Kommandant der „Österreichisch-Ungarischen Polarexpedition“ entdeckte Julius Payer die Inselgruppe Franz-Josef-Land. Nun hat ihm seine Geburtsstadt Teplice ein Denkmal gesetzt

7. 1. 2018 - Text: Marcus Hundt

Die Suche nach einer Antwort kann den Tod bedeuten. Eingeschlossen im Eis, irgendwo im Arktischen Ozean, wusste die Mannschaft der „Admiral Tegetthoff“, dass sich August Petermann geirrt hatte. Der deutsche Geograph vertrat die Ansicht, das Meer zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja würde dank des Golfstroms auch im Winter nicht ganz zufrieren. Ein Dampfer könnte nach dem Überwinden eines Treibeisgürtels also mühelos bis zum Nordpol vordringen. Als die Teilnehmer der Österreichisch-Ungarischen Nordpol-Expedition im Juni 1872 in Bremerhaven aufbrachen, rechneten sie fest damit, in der zweiten Augusthälfte nahezu eisfreies Meer anzutreffen und „weit höhere Breiten zu erreichen, als es jemals vorher auf der Erde geschehen war“. Zwei Monate später war ihnen klar, dass sie sich getäuscht hatten. Aus Entdeckern waren Gefangene des Eises geworden.

Ein ganzes Jahr lang trieb der Schoner langsam in unbekannte Regionen, mehrere Monate davon in der dunklen Polarnacht. Um die Lebensmittelvorräte machte sich die Besatzung noch keine Sorgen, schließlich war die Expedition auf drei Jahre ausgelegt. Ihre größten Bedenken galten der „Tegetthoff“, denn immer wieder drohten mächtige Eisblöcke das Segelschiff zu zerquetschen. „Verzweiflung hätte uns erfüllen müssen, hätten wir (…) gewusst, dass wir fortan verdammt seien, willenlos den Launen des Eises zu folgen. So aber hofften wir von Tag zu Tag (…) auf die endliche Stunde der Befreiung“, schrieb Kommandant Julius Payer in sein Tagebuch. Der 31-Jährige hatte bereits an zwei Polarexpeditionen teilgenommen und sich zuvor einen Namen als Bergsteiger und Kartograph gemacht. So machte sich Payer auch keine Illusionen darüber, dass er sich auf einer Reise ohne Wiederkehr befinden könnte. „Ist dies das Ende Deiner Pläne? Bis hierher und nicht weiter und werden wir ewig verschollen bleiben?“, fragte er sich in den ersten Tagen auf hoher See.

Was die Forschungsreisenden gefühlt haben müssen, als sie am 30. August 1873 nach Monaten der Ungewissheit zum ersten Mal wieder Land erblickten, kann sich wohl kein Mensch ausmalen. „Es war um die Mittagszeit, da wir über der Bordwand gelehnt in die flüchtigen Nebel starrten, durch welche dann und wann das Sonnenlicht brach, als eine vorüberziehende Dunstwand plötzlich raue Felszüge enthüllte, die sich binnen wenigen Minuten zu dem Anblick eines strahlenden Alpenlandes entwickelten!“ Doch das Ufer war noch viele Meilen entfernt. Erst zwei Monate später setzten Julius Payer und einige Männer erstmals einen Fuß auf das nach dem regierenden österreichischen Kaiser benannte „Franz-Josef-Land“. Für Payer ein unfassbarer Augenblick: „Alle Bedenken schwanden; voll Ungestüm und wilder Aufregung kletterten und sprangen wir über das zu Wellen getürmte Eis nach Norden, und als wir auch den Eisfuß überwunden hatten und es wirklich betraten, sahen wir nicht, dass es nur Schnee, Felsen und festgefrorene Trümmer waren, die uns umgaben, und dass es kein trostloseres Land auf Erden geben könne als die betretene Insel, für uns war sie ein Paradies, aus diesem Grund erhielt sie den Namen Wilczek-Insel.“ Der Polarforscher und Mäzen Hans Graf Wilczek war der wichtigste Förderer der Expedition, mit seinem Geld war die „Tegetthoff“ gebaut und die umfangreiche Ausstattung finanziert worden.

Payers Freude über die bevorstehenden Erkundungen erhielt schon bald einen Dämpfer. Denn bereits nach drei kleineren Ausflügen setzte die zweite Polarnacht ein. Sie dauerte 125 Tage. So lange mussten sich die Entdecker noch in Geduld üben.

Im Februar 1874, als die Sonne erstmals wieder am Horizont erschien und fast zwei Jahre nach dem Beginn der Expedition, beschloss der „Kommandant zur See“ Carl Weyprecht den Schoner aufzugeben und Ende Mai mit Booten und Schlitten über das Eis zurückzukehren. Doch zunächst hatte die Stunde von Julius Payer geschlagen: Im Frühjahr unternahm er mit seiner Mannschaft mehrere Ausflüge, um sich einen Eindruck von der Ausdehnung der neu entdeckten Inselgruppe zu verschaffen. Für den Abenteurer aus dem nordböhmischen Teplitz erfüllte sich ein lang gehegter Wunsch. Er stellte sich vor, dass Peru oder das sagenhafte Goldland Ophir der Entdeckung harrten und nicht kalte, schneebedeckte Länder.

Bei Temperaturen um 35 Grad unter Null passierten die Männer zahlreiche Inseln, erklommen schroffe Felsen und Payer machte von seinem Recht der Namensgebung im „Franz-Josef-Land“ ausgiebig Gebrauch. Personen, die das Unternehmen gefördert hatten, und Städte wie Frankfurt, Triest, Brünn, Coburg und Klagenfurt fanden Eingang in die Topographie. Über die Westküste von Kronprinz-Rudolf-Land (heute: Rudolf-Land) entlang des Alkenkaps und der nach Payers Geburtsstadt benannten Teplitzbai gelangten der Kommandant und zwei seiner Mitstreiter am 12. April zum nördlichsten Punkt ihrer Reise. Nach einem Marsch von 17 Tagen standen sie auf einem 300 Meter hohen Vorgebirge – Payer bezeichnete diesen Moment später als den größten seines Lebens. „Mit stolzer Erregung pflanzten wir die Flagge Österreich-Ungarns zum ersten Mal im hohen Norden auf; wir hatten das Bewusstsein, sie so weit getragen zu haben, als unsere Kräfte es erlaubten“, hielt Payer die Ankunft am Kap Fligely (benannt nach dem österreichischen Kartographen August von Fligely) in seinem Tagebuch fest. Dass er den nördlichsten Punkt Eurasiens erreicht hatte, erfuhr Payer zu Lebzeiten nicht mehr. Er war sich sicher, in der Ferne weitere Gebiete gesichtet zu haben, die er auch in seiner Karte vom „Franz-Josef-Land“ verzeichnete. Wie sich später herausstellen sollte, handelte es sich dabei allerdings nur um Luftspiegelungen, die Küsten vortäuschten.

Nach dem Entschluss, das Schiff aufzugeben – niemand rechnete damit, dass die „Tegetthoff“ im dritten Sommer freikommen würde –, begab sich die Crew auf eine beschwerliche Rückreise mit Schlitten und Booten. Kommandant Weyprecht wusste insgeheim, die Chance auf ein glückliches Ende der Unternehmung war gering. Eher rechnete er damit, dass die gesamte Mannschaft zu Tode käme. Weyprecht ließ sich davon allerdings nichts anmerken; im Gegenteil, er verbreitete Zuversicht: Die Männer würden im Süden zum offenen Meer gelangen, mit ihren Booten die Insel Nowaja Semlja erreichen und dort gerettet werden. In seinem Tagebuch berichtete der in Darmstadt geborene und in österreichisch-ungarischen Diensten stehende Marineoffizier von bedrohlichen Eisbären; dem Lagerkoller; dem tückischen Wind, der die Expedition gegen die Marschrichtung nach Norden treiben ließ; einer „geisterbleichen Landschaft“ und einen „Kommandanten an Land“, der mit seinen Nerven am Ende war. Angeblich soll Julius Payer auf dem langen Weg sogar gedroht haben, Weyprecht umzubringen, wenn sich herausstellen sollte, dass sie die Heimat nicht erreichten.

Wer weiß, ob die Expedition ohne Weyprechts Überlebenswillen erfolgreich verlaufen wäre und ob dann überhaupt jemand von der Entdeckung neuer Länder in der Arktis erfahren hätte. Jahre später zollte ihm Payer dafür großen Respekt. Auf seinem Ölgemälde „Nie zurück“, das heute im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien hängt, zeigt er wie Weyprecht inmitten von Eis und Schnee seine erschöpften Kameraden zum Durchhalten aufruft.

Die Männer hatten ihr Schiff am 20. Mai verlassen und erst am 15. August das offene Wasser erreicht. Zehn Tage später, der Proviant neigte sich dem Ende zu, erblickten sie zwei russische Schiffe. Sie waren gerettet. Der Schoner „Nikolaj“ brachte die 23 Schiffbrüchigen – der Maschinist der „Tegetthoff“ war auf Franz-Josef-Land an Tuberkulose gestorben – nach Vardö in Norwegen. Von dort aus ging es mit dem Zug über Hamburg und Berlin nach Wien. An allen Orten der Rückreise jubelten die Menschen den Polarforschern zu. In der Bevölkerung galten Payer, Weyprecht und die anderen als Helden. Den Nordpol hatten sie zwar nicht erreicht, dafür aber ein neues Land entdeckt.

Julius Payer (Bildnis als Oberleutnant, aufgenommen von Fritz Luckhardt, vor 1875)


Julius Payer – Bergsteiger, Polarforscher, Historienmaler

Nach seiner Rückkehr aus dem ewigen Eis im September 1874 legte Payer seine Tagebücher und Aufzeichnungen vor. Was folgte, erschütterte ihn zutiefst: Seine Vorgesetzten unterstellten ihm, seine geschilderten Erlebnisse seien erfunden. Aus dem Umfeld von Kronprinz Rudolf soll die Bemerkung gefallen sein: „Solche Strapazen kann kein Mensch ertragen, wer weiß, ob es überhaupt ein Franz-Josef-Land gibt.“ Der Generalstabschef reagierte auf Payers Einspruch angeblich mit den Worten: „Was willst Du? Ich denke ebenso und mit mir viele Deiner Kameraden.“ In der Folge quittierte Payer tief gekränkt seinen Dienst und bekam ein Honorar von 44 Gulden ausgezahlt (in heutiger Kaufkraft entspricht dieser Betrag rund 260 Euro). Zwei Jahre später veröffentlichte Payer sein Expeditionstagebuch in Buchform und zeigte es damit allen, die an der Entdeckung der Inselgruppe gezweifelt hatten. Kurz danach wurde er sogar in den Adelsstand erhoben – eine späte Genugtuung. „Die Österreichisch-Ungarische Nordpol-Expedition“ verkaufte sich über 60.000 Mal und war damit ein Bestseller. Für seinen Biographen, den Historiker Frank Berger, ist der Bericht „bis heute (…) das wohl schönste Entdeckungsbuch deutscher Sprache.“

Auf ähnliche Abenteuerreisen begab sich Payer nicht mehr, obwohl er gegen Ende seines Lebens neue Polarpläne geschmiedet hatte. Gleichwohl feierte er weiterhin große Erfolge, als Maler verdiente er gutes Geld, lebte in München, Frankfurt und Wien. Auf Gemälden wie „Bai des Todes“  oder „Nie zurück“ hielt Payer seine Erinnerungen an die „aufregendste Zeit“ fest.

Zeit seines Lebens strebte der „berühmteste Sohn der Stadt Teplice“ nach öffentlicher Anerkennung. Die wurde ihm auch stets zuteil, ob als Gipfelstürmer und Kartograph, Polarforscher und Entdecker oder als Schriftsteller und Historienmaler. Die drei Karrieren waren miteinander verbunden: Seine Leidenschaft für die Berge erwachte in Verona, wo er als 18-Jähriger stationiert war, nachdem er in der Schlacht von Solferino gekämpft hatte. Kurz danach bestieg er den Großglockner auf einer außergewöhnlichen Route, zeichnete die ersten genauen Karten des Ortlers – damals der höchste Berg Österreich-Ungarns – und seiner Umgebung. Als Autor verfasste er die geograpischen Grundlagenwerke der Ostalpen. Insgesamt gelangen ihm über 70 Gipfelerfolge, davon 38 Erstbesteigungen.

Seine Erfahrungen als Bergsteiger und Kartograph brachten ihm nicht nur die Ehrendoktorwürde der Universität Halle ein, sondern auch eine Einladung zur „Zweiten Deutschen Nordpolarexpedition“, die ihn nach Grönland brachte. Unter anderem gab Payer dem neu entdeckten „Kaiser-Franz-Joseph-Fjord“ im Nordosten der Insel seinen Namen. Mit einem „Orden der Eisernen Krone“ ausgezeichnet, standen nun noch spektakuläre Expeditionen bevor. Die Entdeckung von „Franz-Josef-Land“, die wissenschaftlichen Resultate und die Erfahrungen, die er auf der Polarreise gemacht hatte, stellten einen bedeutenden Beitrag zur Polarforschung dar, vor allem zur Entdeckung der Nordost-Passage.

Julius Payer starb am 29. August 1915, wenige Tage vor seinem 74. Geburtstag, an einem Herzinfarkt und wurde in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt. An seinem Geburtshaus in Teplice – heute ein nach ihm benanntes Hotel – erinnert eine Plakette an Payer: „In diesem Hause wurde am 2. September 1841 der Kartograph, Alpinist, Polarforscher und Reisende, Entdecker des Franz-Josef-Landes, ein hervorragender Maler von Polarlandschaften und Ehrenbürger der Stadt Teplitz JULIUS PAYER geboren.“ Und vor kurzem setzte die Stadt ihrem wohl berühmtesten Sohn ganz in der Nähe – im Schönauer Park (Šanovský park) – sogar ein Denkmal. Wo einst ein Monument für die Opfer der Napoleonischen Kriege stand, wurde im Dezember eine Büste des Bildhauers Jan Klobasa (1932-2017) eingeweiht.

BUCHTIPP

Die Berge, das Eis und die Finsternis: Julius Payer (1842–1915) gehört zu den größten und bedeutendsten Entdeckern Österreichs und zu den ganz wenigen österreichischen Polarfahrern von Weltrang. Sein bewegtes, spannendes und
abenteuerliches Leben wurde anlässlich seines 100. Todestages in einer detailliert recherchierten und umfangreich bebilderten Biografie nachgezeichnet.

Frank Berger: Julius Payer. Die unerforschte Welt der Berge und des Eises. Verlag Tyrolia, Salzburg 2015, 268 Seiten, ISBN: 978-3702234416