Auf dem richtigen Weg

Auf dem richtigen Weg

Vít Slezák wanderte mehr als 600 Kilometer durch die Karpaten – und fand seine Berufung. Heute führt er Touristen durch die Böhmische Schweiz

10. 8. 2016 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Fotos: Northern Hikes und GfM/CC BY-NC-ND 2.0

Vít Slezák ist stur. Als er seinen Job bei einer internationalen Unternehmensberatung kündigte, um alleine die Karpaten zu durchwandern, zog er auf der Landkarte eine Linie. Er beschloss, dieser Route zu folgen, komme was wolle. Egal wie hoch die Berge oder wie dicht die Wälder auf seinem Weg sein würden. Genauso beharrlich war er, als es darum ging, sich neu zu erfinden.

Als Teenager saß Slezák viel vor dem Computer. Die Landschaft in seiner Heimat interessierte ihn damals nicht besonders. Und so landete er als Erwachsener an einem Schreibtisch in einem großen Unternehmen – mit einem ansehnlichen Auskommen. Allein: Der Job erfüllte ihn nicht. „Ich wollte nicht für den Rest meines Lebens auf einen Bildschirm starren“, erzählt der 29-Jährige. Aber was wäre die Alternative? „Ich fing an, darüber nachzudenken, wie ich als Kind die Welt wahrgenommen habe, was mir damals Freude gemacht hat. Und darüber, wie ich das Erwachsenenleben so gestalten könnte, dass diese Freude wieder Teil meines Alltags wird.“ Die Sandsteinformationen der Böhmischen Schweiz, ihre Wälder, die über den Wipfeln kreisenden Falken sind für Slezák die Symbole seiner Kindheit. Irgendwo hier würde die Lösung liegen, das wusste er damals schon.

Im Mai 2014 startete er einen ersten Versuch, kündigte seinen Job, um Touristen in die Böhmische Schweiz zu bringen – und scheiterte. Das Timing war schlecht, die Saison fast vorbei. „Ich wollte unbedingt loslegen und habe nicht genug nachgedacht.“ Er landete wieder am Schreibtisch und nahm Urlaubstage, um weiterhin ab und zu Wandergruppen zu führen. Nach einer Weile ging ihm das Geld aus; sein Unternehmen kam nicht in die Gänge. Wenn Slezák heute davon erzählt, scheint es nicht so, als würde er seine Entscheidungen von damals bereuen. Eher das Gegenteil: Er ist jemand, der Hindernisse als Chancen für Lernerfahrungen begreift.

Vít Slezák (rechts) mit zwei Touristen vor dem Prebischtor (Pravčická brána), der größten Sandstein-Felsbrücke Europas.

Zurück im Büro wurde ihm schnell klar, dass im Arbeitsalltag weder Zeit noch Raum dafür bleiben, darüber nachzudenken, was er wirklich will. Ohne einen radikalen Schnitt würde sich nichts verändern. Er kündigte endgültig, wollte alleine sein; darüber nachdenken, was er vom Leben erwartet. Und dafür auch an seine eigenen Grenzen gehen. Der Plan: Eine einsame Wanderung durch die Karpaten, von der Slowakei aus durch die Ukraine bis nach Rumänien. „Die ersten drei Tage waren furchtbar“, lacht Slezák. Der schwere Rucksack schmerzte auf seinem Rücken. Aber es wurde besser. Er schickte unnötigen Ballast nach Hause und begann langsam, seine Umgebung bewusst wahrzunehmen. Die slowakische Berglandschaft, Spuren von Bären und Wölfen in der Erde, Begegnungen in den kleinen Städten und Dörfern – „ich hatte auf einmal das Gefühl, ich bin auf dem richtigen Weg.“ In 38 Tagen überwand er rund 7.000 Höhenmeter und brachte 650 Kilo­meter hinter sich. Er schlief oft im Wald, alle paar Tage gönnte er sich eine Nacht in einem Gästehaus.

Amerikaner auf Spurensuche
Ungefähr 100 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt klingelte das Handy. Es war Slezáks Bruder. Der Vater war gestorben, einfach so, vollkommen unerwartet. Was danach in ihm passierte, beschreibt Slezák in der Gründungsgeschichte seiner Firma „Northern Hikes“: „Ich brauchte eine Weile, um zu verdauen, was uns passiert ist, aber ich habe es auch als Signal verstanden, dass niemand für immer da ist und dass manche Dinge einfach nicht warten können. Der richtige Zeitpunkt kommt vielleicht nie.“ Er wollte es noch einmal mit einem eigenen Unternehmen versuchen, dieses Mal aber richtig.

Manche Kunden sind noch nie in einem Wald gelaufen, andere kommen mit Absatzschuhen. Beeindruckt von der Weite sind sie alle.

Vít Slezák ist ein guter Geschichtenerzähler. Vielleicht hat er das bei der amerikanischen Beratungsfirma gelernt, für die er früher arbeitete: Dass ein Gründungsmythos dabei helfen kann, ein Produkt zu verkaufen. Er selbst sagt, er habe vor allem mitgenommen, dass man zugleich freundlich und professionell sein könne – und stellt das auch gleich unter Beweis. Zum Treffen bringt er eine Postkarte aus seinem Heimatort Děčín mit, die Rückseite ist mit einer charmanten Einladung versehen. Am liebsten würde man sofort aufbrechen. So geht es wohl auch den Touristen, die sich seit der Gründung von „Northern Hikes“ täglich mit Slezák oder einem seiner Mitarbeiter von Prag aus auf den Weg in den Nationalpark Böhmische Schweiz machen. 600 waren es im vorigen Jahr. Nicht gerade wenig für ein Unternehmen mit nur sieben Mitarbeitern, das kaum Geld für Marketing ausgibt. An seine ersten Kunden kann sich Slezák noch gut erinnern. Ein älteres Paar aus Minnesota, das ihm von der Verwaltung des Nationalparks vermittelt worden war, suchte in der Nähe von Děčín nach den Spuren seiner Vorfahren, die einst in der Gegend gelebt hatten. Der Gründer begann zu recherchieren – und wurde tatsächlich fündig. Auf einem Friedhof stand er schließlich zusammen mit den beiden Amerikanern vor dem Grab eines Verwandten. Ein sehr berührender Moment für alle, die dabei waren, wie er sagt. Auch eine gute Geschichte. Aber man nimmt sie ihm ab. Mit dem Paar in Minnesota ist er noch heute in Kontakt, zu Feiertagen schreiben sie sich Karten.

Fast wie am Meer
Die Gäste von „Northern Hikes“ kommen aus allen Ländern der Welt. „Wir hatten schon Kunden, die noch nie zuvor in einem Wald gelaufen sind.“ Die beliebteste Tour des Unternehmens führt über den Gabrielensteig zum Prebischtor – der größten natürlichen Sandstein-Felsbrücke Europas – und anschließend entlang der Kamnitz, einem Nebenfluss der Elbe; insgesamt rund 15 Kilometer durch den Park. Für Besucher aus Dubai oder dem Mittleren Osten seien die grünen Wälder und die Wasserströmungen oft eine mittlere Sensation, erzählt Slezák. Allerdings seien nicht alle immer bestens auf das Naturerlebnis vorbereitet: Wegen einer Kundin, die mit hohen Absätzen zur Tour erschien, musste die übliche Strecke stark gekürzt werden. Für die Führer von „Northern Hikes“ ist das aber kein Problem – „wir haben an diesem Tag einfach sehr viele Kaffeepausen gemacht“, erzählt Slezák. Eine andere Gruppe, die ihm besonders im Gedächtnis geblieben ist, bestand aus drei chinesischen Rentnerinnen. Die Älteste von ihnen war 87 Jahre alt. Schon im Auto fragte sie, ob es auch bergauf gehen würde. Die Tour dauerte dreimal so lange, wie geplant. „Als sie schließlich bei mir eingehakt auf einem der Felsen stand, sagte sie, dass sie nie gedacht hätte, so etwas in ihrem Alter noch zu schaffen.“   

Viele Deutsche seien nicht unter seinen Gästen. „Die sind meistens gut vorbereitet und finden die interessanten Routen selbst.“ Das bedauert Slezák ein bisschen, schließlich hat er viel zu erzählen über seine Heimat. Man könne schließlich nicht alles im Leben bei Google finden, fügt er hinzu.

Die verbindliche Art hebt „Northern Hikes“ von vielen anderen Angeboten für Touristen ab. Mit seinem „customer approach“, wie er es im Slang der Unternehmensberater ausdrückt, ist er vor allem in der Böhmischen Schweiz eine Art Pionier. „Nordböhmen ist bekannt für seine Rückständigkeit“, meint Slezák. Während des Kalten Krieges sei ein großer Teil des Nationalparks nicht zugänglich gewesen. Grenzgebiet, Niemandsland. Früher lebten hier vor allem Deutsche, mit ihrer Vertreibung nach 1945 setzte der wirtschaftliche Niedergang ein, von dem sich die Region noch heute nicht erholt hat. „Obwohl es landschaftlich wunderschön ist, gibt es keine gehobenen Hotels, der Service ist schlecht.“ Und nicht zuletzt würden die Touristen auch wegen der Sprachbarriere ausbleiben. Mit Englisch käme man in der Region bis heute nicht weit. Dabei hat sie für Besucher aus dem Ausland viel Reizvolles zu bieten. Wie würde Slezák selbst den Zauber der Böhmischen Schweiz beschreiben? Er nimmt einen Schluck von seinem Cappuccino und denkt einen Moment nach. „Wir haben in Tschechien keinen Zugang zum Meer. Aber im Nationalpark hat man manchmal dieses Gefühl von Weite, das man sonst nur an Ozeanen spürt. Manche Felswände fallen 300 Meter tief hinab und die Sandsteinformationen bilden etwas, das irgendwie gewaltig ist.“ Er erzählt vom Blick auf Děčín, vom Nebel, der sich um die Häuser legt, und von Aussichten, „die entschleunigen und glücklich machen“. Es sind die Bilder seiner Kindheit.