Am Anfang war die Musik

Am Anfang war die Musik

Der englische Choreograf Michael Corder haucht einem eher unbekannten Prokofjew-Ballett neues Leben ein

9. 3. 2016 - Text: Jan NechanickýText: Jan Nechanický; Foto: Dasha Wharton

 

Am Anfang war die Musik. Als der englische Choreograf und Tänzer Michael Corder zum ersten Mal Prokofjews Ballett „Das Märchen von der steinernen Blume“ hörte, war er fasziniert. Die Musik hatte ihn beinahe so verzaubert wie die Schneekönigin den jungen Kay in dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen. Auch die magisch-düstere Geschichte hatte Corder schon immer begeistert. Und sie war es auch, die es ihm ermöglichte, Prokofjews in Westeuropa damals unbekanntes Ballett aufzuführen. Ihre Premiere mit dem English National Ballett feierte die „Schneekönigin“ im Jahr 2007. Nun hat sie Corder mit den Ballettensemble des Prager Nationaltheaters einstudiert und führt sie in der tschechischen Hauptstadt neu auf.

Anders als bei seinen früheren Aufführungen bekannter Prokofjew-Werke wie „Romeo und Julia“ oder „Aschenbrödel“ musste sich der Choreograf bei einem unbekannten Stück, das auf russischen Volksmärchen basiert, Gedanken um die Besucherzahlen machen. Corder entdeckte, dass die Geschichte und Andersens Märchen strukturelle Parallelen aufweisen. Es gibt jeweils drei Hauptfiguren, der Handlungsstrang ist ähnlich. Er entschied sich deshalb, mit Prokofjews Musik das Märchen Andersens zu erzählen, um das unbekannte Stück für die europäische Bühne attraktiv zu machen.

Die Geschichte von der bösen Schneekönigin, die mithilfe einer Spiegelscherbe den Jungen Kay verzaubert und ihn in ihren eisigen Palast einkerkert, weil sie ihn und seine Freundin Gerda um ihre Liebe beneidet, gehört zu den bekanntesten Märchen Andersens. Für die Ballettaufführung in drei Akten musste Corder die Geschichte stark kürzen. Die Überarbeitung ist gut gelungen, denn der Zuschauer verliert sich nicht in Einzelheiten und kann die Handlung problemlos verfolgen, auch ohne das Märchen zu kennen.

Musik als Inspiration
Am Anfang von Corders Arbeit war tatsächlich nur die Musik. Wie er behauptet, leitete er von ihr allein alle Tanzbewegungen ab und passte ihr die Geschichte an. Aus der Musik sollte die Handlungsstruktur entstehen. Corder stellte jedoch fest, dass er auch mit anderen musikalischen Werken Prokofjews arbeiten muss, um seinem Werk eine verständliche Form zu geben. Mit dem Musikarrangement beauftragte er Julian Philips. Der englische Komponist wählte zu dem erwähnten Ballett noch Auszüge aus der Oper „Krieg und Frieden“, aus der „Sommernachts-Suite“ und aus der 5. Sinfonie in B-Dur. Entstanden ist ein musikalisches Stück, das in seinem Hauptthema – das auf der „Steinernen Blume“ aufbaut – die Schneekönigin charakterisieren soll und das, wie der Komponist selbst bemerkt, wie ein „sowjetischer Edward Elgar“ wirkt. Die übrigen sich wiederholenden Motive aus anderen Werken Prokofjews dienen zur Charakterisierung von Gerda und Kay.

Corder arbeitete mit einem Team, das ihn schon bei mehreren Inszenierungen begleitete. Neben Julian Philips wirkte auch der Bühnenbildner Mark Bailey sowie der Lichtdesigner Paul Pyant. Obwohl man das Bühnenbild als durchaus klassisch bezeichnen kann und es nicht gerade mit modernen Elementen überrascht – das Haus von Kay und Gerda sieht aus wie eine typische russische Datscha, der Palast der Schneekönigin ist dem aus Disneys Film nicht unähnlich –, wirkt es nicht langweilig und kann mit wenigen Mitteln die entsprechende Atmosphäre erzeugen. Dies ist vor allem den Lichteffekten zu verdanken. Auch die Kostüme sind eher klassisch gestaltet und passen zum schlichten aber wirkungsvollen Arrangement.

Klassische Inszenierung
Das Ballett arbeitet ebenso mit klassischen Ausdrucksmitteln, die Corder jedoch nuanciert. Für Gerda und Kay und die Darstellung des Landlebens verwendet er Elemente der Volkstänze, die Welt der Schneekönigin dagegen zeichnet sich durch präzise, klassische Bewegungen aus.

Die Schlussszenen gehen im Vergleich zu den vorangegangenen in ihrer Gestaltung leider ein wenig unter. Die Momente, in denen Gerda mit der Schneekönigin ringt, und die Erweckungsszene, in der Kay durch die Macht der Liebe aus seinem Schlaf geholt wird, wirken nach zweieinhalb Stunden eher ausdrucksschwach. Und das obwohl sie den Höhepunkt des ganzen Stückes bilden sollen. Als dieser ließen sich vielmehr Szenen wie der Tanz der Zigeuner im Wald oder die Traumsequenz von Gerda bezeichnen. Den komischen Höhepunkt des Abends bildet die Rentier-Szene, die alle Zuschauer zum Lachen brachte.

Die Leistung der Tänzer wirkt sehr souverän. Vor allem die Solisten zeigen, dass sie die Herausforderungen des klassischen Balletts problemlos bewältigen – nicht nur Nikola Márová als Schneekönigin, Matěj Šust als Kay oder Andrea Kramešová als Gerda überzeugen mit ihrer tänzerischen Leistung. Auch Zuzana Šimáková mit Guido Sarno in den Nebenrollen als Zigeuner sorgen für Applaus. Das Orchester spielte souverän und hatte Prokofjews – und Philips – märchenhafte Musik mit Leichtigkeit vorgetragen. Hervorzuheben sind dabei vor allem die schönen Oboen- und Flötensoli. Ein störendes Element waren jedoch die ersten Geigen, die während des ganzen Abends mit starken Into­nationsproblemen kämpften.

Aber auch solche Entgleisungnen zerstören den Gesamteindruck nicht. Die Geschichte von Liebe und ihrem Kampf gegen das Böse wird mitreißend erzählt. Choreografie und Musik zeugen von einer erfahrenen Hand, die in Kombination mit guten Tänzern ein schönes klassisches Ballett entstehen lässt.

Die Schneekönigin. Státní opera Praha, nächste Aufführungen: 18. und 22. März (19 Uhr), 19. März (14 & 19 Uhr), Eintritt: 230–990 CZK, www.narodni-divadlo.cz