„Nicht gut genug gearbeitet“
Film

„Nicht gut genug gearbeitet“

Felix Ahrens erhielt für „Am Ende der Wald“ einen Oscar. Doch in dem Spielfilm fehlt ein wichtiger Teil

21. 3. 2021 - Text: Klaus Hanisch, Titelbild: Mitteldeutscher Rundfunk

Eine halbe Stunde, die nachwirkt. Nur 30 Minuten Film, die nachdenklich machen. Selbst wenn sie um zwei Uhr morgens präsentiert werden, wie gerade im MDR-Programm. Dann entlässt „Am Ende der Wald“ mit vielen Fragen in die Nacht.

Der Regisseur des Streifens ruft zurück. Kurz nach 14 Uhr. „Hier ist Felix“, meldet er sich jovial. Er drehte diesen Kurzfilm schon vor fünf Jahren. Hat er alles richtig gemacht, wenn seine Regie-Arbeit weit über den Tag hinaus reflektiert wird? Er verstehe diese Frage nicht so recht, antwortet der Mann aus Niedersachsen. Auch er wirkt ein wenig müde. Wieso mache sein Film nachdenklich? Weil man ihn nach wie vor interpretieren kann. Vielleicht sogar muss.

Felix Ahrens ist gähnig. Offensichtlich stellt er sich auf das übliche Blabla mit Journalisten ein. Also gut, Thema eins: langlebig. Klar, sagt er, natürlich hoffe ein Regisseur, dass ein Betrachter seinen Filmstoff möglichst lange im Kopf verarbeite. Und klar, am besten noch Jahre später. „Einen Film nur für kurze Dauer, das will ja eigentlich kein Filmemacher.“ Auch dann nicht, wenn der Streifen zielgenau als Abschlussarbeit an einer Filmhochschule dienen soll. Wie dieser für ihn, an der Uni „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg.

Regisseur Felix Ahrens | © APZ

Ahrens führte nicht nur Regie, er schrieb auch am Drehbuch für den Filmstoff mit, der im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet spielt. Über den Tag hinaus wirken – also ja. Aber interpretieren? Soll der Film nur unterhaltsam sein oder auch tiefsinnig im Hinblick auf gesellschaftliche und soziale Verhältnisse? Er lässt sich Zeit mit einer Antwort. Ziel sei eine Mischung, referiert er dann. In erster Linie sollen Filme Unterhaltung sein. „Wenn man einen Film macht, der langweilt, dann hat man etwas falsch gemacht.“ Ahrens formuliert eine Erfolgsformel: „Wenn die Leute am Fernseher hängenbleiben, dann hat man es richtig gemacht. Wenn man damit unterhält und der Film quasi auf eine Reise mitnimmt, dann hat man alles richtig gemacht.“

Wem die deutsch-tschechischen Beziehungen am Herzen liegen, der verbindet mit seinem Film viele Aspekte. Weiß Felix Ahrens, dass viele Tschechen die Deutschen heute noch mit einer gewissen Skepsis betrachten, wenn auch nicht mehr als Kriegsverbrecher? Und dass umgekehrt vielen Deutschen die Tschechen im besten Fall gleichgültig sind, im schlechten aber verdächtig, wenn auch nicht ausnahmslos als Drogenproduzenten?

Sein Film könnte so ausgelegt werden, dass er diesen Verdacht bestätigt. Denn am Ende legt die Schwester des getöteten Tschechen der deutschen Polizistin drei Päckchen mit Rauschgift in den Kofferraum und verrät diese vermeintliche „Kurierfahrerin“ an die deutsche Polizei. „Leute töten und ungestraft davonkommen“, das ist für sie nicht akzeptabel. Daher Rache für ihren toten Bruder. Auch sinnbildlich dafür, dass Deutsche und Tschechen einfach nicht recht zusammenpassen wollen, wenn auch noch aus anderen Gründen?

Felix Ahrens ist jetzt hellwach. „Ich spüre, worauf Sie hinauswollen“, erwidert er. Damit verstehe man ihn jedoch grundlegend falsch. „Der Film verfolgt keine rassistische Absicht“, betont er. „Wirklich nicht.“ Keinesfalls wolle er die Tschechen als Böse zeigen und die Deutschen als die Guten. „Ganz und gar nicht“, schiebt er nach. Schließlich habe die deutsche Polizistin einen Fehler begangen. Und sie wisse darum. „Deshalb handelt sie so, wie sie handelt.“

Sie fährt über die Grenze zur Familie des von ihr erschossenen Tschechen und legt Geld ans Fenster, mit dem „naiven Gedanken, sich aus der Schuld herauszukaufen“. Denn ein Kollege hatte ihr erklärt, dass der Tscheche lediglich betrunken und ohne Führerschein unterwegs war, nicht jedoch als Drogenkurier. Was die deutsche Beamtin vermutete und weshalb sie ihn reflexartig erschoss, auf der Flucht vor ihrer Kontrolle.

Nichtsdestotrotz, fügt Ahrens an, „es werden nun mal Drogen in Tschechien produziert“. Das sei Fakt und keine Lüge. „Wer bei Google nach ,Tschechien‘ sucht, stößt sehr bald auf das Schlagwort ,Crystal Meth‘.“ Er setzt nach: „Warum darf ich das also nicht in meinem Film behandeln?“

Der Regisseur führt ein anderes Beispiel an. Sein Wohnort in Berlin liegt an einem Park, hier gebe es sehr viele Drogendealer. Allesamt Schwarze. „Das ist Fakt.“ Was, wenn er einen Film über sie machen würde? „Darf ich dann keinen Schwarzen als Schauspieler besetzen?“ Wenn lediglich Weiße diese Rollen spielen, würde er der Realität nicht gerecht. Doch er räumt ein: „Ein ganzer schmaler Grat, zumal wenn man die schwarze Community insgesamt nicht verletzen möchte.“

Solche Gedanken habe er sich auch vor „Am Ende der Wald“ gemacht. Nämlich: „Begeben wir uns auf einen gefährlichen Weg, wenn eine deutsche Polizistin einen tschechischen Autofahrer und seine Familie verdächtigt, Crystal Meth zu produzieren?“ Ahrens legt eine kurze Pause ein. „Ja, der Grat ist schmal, aber am Ende des Tages entspricht es den Tatsachen.“

Ziemlich pauschal, holzschnittartig und schablonenhaft – könnte man entgegenhalten. Vor allem greift der Film das Stereotyp auf, dass jeder Tscheche eben doch sofort über Drogen verfüge – wenn er sie denn braucht. Womit zusätzlich der Generalverdacht der deutschen Polizistin gegenüber Tschechen als unheimlichen Gestalten unterstützt wird.

Felix Ahrens nimmt diesen Hinweis zum Anlass, um über ein Missverständnis aufzuklären. Eher ein Versäumnis. Wie sein Co-Autor empfinde er sein Drehbuch mittlerweile als „nicht ganz aufgegangen“. Geschrieben wurde es so, „dass diese tschechische Familie wahrheitsgemäß Bauern sind und mit Drogenhandel nichts am Hut hat“, erläutert Ahrens. Wobei er „nichts“ stark betont. Vielmehr kaufe die Schwester mit dem Geld der Polizistin in einem Asia-Shop an der Grenze das Crystal Meth, das sie ihr dann ins Auto legt.

Kamen diese Szenen überhaupt im Film vor? Sie blieben nicht in Erinnerung. „Es war unsere Hoffnung, dass dies im Off zu verstehen ist“, erklärt Felix Ahrens, „aber das kommt nicht ganz rüber.“ Warum wurden sie überhaupt weggelassen? „Wir gingen davon aus, dass diese Asia-Shops entlang der Grenze und deren Drogenverkauf allgemein bekannt sind.“

Doch damit fehlt ein nicht unwesentlicher Teil im Film. „Und diese Verknüpfung bekommen wir nicht hin“, gesteht der Autor selbstkritisch ein, „da haben wir nicht gut genug gearbeitet.“ Tatsächlich werde auf diese Weise der Verdacht genährt, dass die Familie Drogen herstellt. Obwohl in seinem Buch das Gegenteil geplant war.

„Mit dem Wissen von jetzt“ komme er zu dem Schluss, dass „man das Drehbuch nicht so richtig begreifen“ könne. „Deshalb ist es in erster Linie ein Studentenfilm und keiner von professionellen Filmemachern“, urteilt Felix Ahrens heute über sein Werk.

Gleichwohl bekam er dafür einen Oscar. Wenn auch „nur“ einen Studenten-Oscar. Ahrens durfte ihn in Los Angeles in Empfang nehmen. Mit welcher Begründung? „Mit keiner“, erklärt er, „man weiß nicht, warum man ihn bekommt.“ Erst gebe es die Nominierung, dann eine Einladung und „man fliegt in die USA und holt sich den Preis einfach ab, anders als beim großen Oscar“.

Hat ihm diese hohe Auszeichnung auf seinem weiteren Weg im Filmgeschäft geholfen, hat er dadurch mehr Aufträge bekommen? „Jein“, sagt der Filmemacher. Eigeninitiative sei weiter gefragt, er müsse bei Produktionsfirmen für sich werben. Trotzdem trage er den Oscar „wie einen Stempel auf der Stirn“. Mit dem Text: „Der Junge ist fähig.“ Er werde nun ernster genommen und nicht mehr wie vorher am Telefon einfach abgewimmelt.

Felix Ahrens ist am anderen Ende der Leitung ein gewisses Unbehagen anzumerken. „Ich verstehe, dass man diesen Film in Tschechien als Ärgernis empfinden kann.“ Ärgernis? Mag sein. Vor allem aber als Grundlage für eine Diskussion darüber, wie und warum Tschechinnen und Tschechen in deutschen Filmen dargestellt werden. Nämlich (zu) oft und immer wieder als Mörder oder Prostituierte. Oder eben als Drogenhändler. Von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen.

Man könnte eine lange Liste mit Filmen zusammenstellen, in denen Tschechen als negative Figuren gezeigt werden. „Sie müssen mir diese Liste nicht schicken“, erwidert Ahrens, „ich glaube Ihnen sofort und blind, dass viel Unsinn mit tschechischen Rollen im deutschen Fernsehen getrieben wird.“

Doch Drehbuchschreiber sind auch Multiplikatoren, ihre Filme finden oft ein Millionenpublikum. Tragen sie damit Verantwortung, selbst in solch fiktionalen Produktionen nicht immer nur Klischees zu wiederholen, zum Beispiel über die deutsch-tschechischen Beziehungen – oder geht es allein um Quote statt Realität? „Wir haben in jedem Fall eine Verantwortung“, bekräftigt Felix Ahrens. Er ist Mitte 30 und zählt zur Garde junger deutscher Filmemacher. „Sogar eine große Verantwortung“, legt er nach.

Und warum schreiben dann so viele Autoren immer wieder diese Stereotypen in ihre Drehbücher: zu großer Auftragsdruck, aus Unkenntnis, Ignoranz? „Ich habe das Gefühl, dass sich was verändert hat“, sagt der Spezialist für TV-Serien. Er nimmt als Beispiel „Soko Potsdam“, wo ein Ermittler schwarz sei und ein anderer einen asiatischen Background habe. „Bei Verdächtigen wird darauf geachtet, dass sie ausnahmslos Deutsche sind – und das finde ich richtig.“ In jedem Fall ist es „ein richtig heißes Thema“ für Ahrens, „man möchte in diesen Filmen ja niemand verletzen, auch keinen Shitstorm im Internet auslösen“.

Ist es möglicherweise allein die Aufgabe von Dokumentarfilmern, die Facetten der deutsch-tschechischen Beziehungen herauszuarbeiten und damit der Wahrheit nahe zu kommen, auch wenn sie selten ein Millionenpublikum erreichen, im Gegensatz zu fiktionalen Filmen? Nicht unbedingt, sagt Ahrens, doch auch für Drehbuchautoren gelte: „Negative Schlagzeilen verkaufen sich besser …“

Im Film „Am Ende der Wald“ kommt allerdings auch die Rolle der Mutter des erschossenen Tschechen vor. Sie überrascht sehr. Denn die Frau bittet die Polizistin in ihr Haus und bewirtet sie. Zum Entsetzen ihrer Tochter, die dem ungebetenen Gast an den Kopf wirft: „Hast du jetzt Angst? Die solltest du haben!“ Steht diese Mutter für eine Minderheit ohne Vorurteile und damit als Versöhnerin für gute Nachbarschaft – trotz allem und selbst in dieser persönlich schmerzvollen Situation?

Felix Ahrens fordert dazu auf, seinen Film „nicht zu über-interpretieren“. Thema sei für ihn „Schuld“ gewesen und wie eine Polizistin damit klarkommt, einen Unschuldigen erschossen zu haben. Nicht aber die deutsch-tschechischen Beziehungen.

Auch wenn es eine „Grenzgeschichte“ sein sollte. Und wenn Crystal Meth eine Rolle spielt, weil diese Droge immer viel Aufmerksamkeit beim Publikum garantiere. Nicht über-interpretieren? Ahrens fällt in diesem Moment selbst die Reaktion einer Kollegin an der Filmhochschule ein. Sie hatte vietnamesische Wurzeln und sei „ziemlich erbost“ über seinen Film gewesen. „Sie fand nicht fair, wie Tschechen darin behandelt werden“, gibt er preis. „Und ich war damals beleidigt, weil dies nicht meine Absicht war.“ Schließlich sei es „nur ein Film“.

Er merke aber, „mit dem zeitlichen Abstand und durch Ihren Anruf“, dass man diesen Streifen „ganz anders wahrnehmen kann“. Felix Ahrens gibt sich nun ebenfalls nachdenklich. „Es gibt sicher Leute, die dieser Film verletzt – und das wollte ich nicht.“ Weil dies so rüberkomme, müsse er als Filmemacher künftig sensibler mit solchen Themen umgehen, Drehbücher genauer prüfen.

Auf seiner Website ist praktisch kein Film aufgeführt, für den er keinen Preis oder das Prädikat „besonders wertvoll“ erhielt. „Am Ende der Wald“ ragt durch den Oscar heraus. Welche Reaktionen bekam er in letzten fünf Jahren auf seinen Film? „Ehrlich, ich habe damit gerechnet, dass irgendwann jemand anruft und fragt, wie er gemeint sei.“

Felix Ahrens erinnert sich in diesem Zusammenhang an eine „total nette“ Tschechin. „Sie besorgte mir in Prag einen Raum für ein Casting, war selbst Film-Studentin und wollte den fertigen Film unbedingt sehen.“ Ahrens schickte ihn, sie sah ihn sicher. „Doch sie hat mir nie geantwortet. Obwohl wir einen super Kontakt hatten.“ Zweimal schrieb er ihr noch, lud sie auf ein Bier in Tschechien ein, dankte nach der Nominierung für den Oscar erneut für die Zusammenarbeit. Weiterhin keine Reaktion von ihr. „Da war mir schon klar, dass ich diese Frau wahrscheinlich ganz stark verletzt hatte.“

Die tschechischen Schauspieler in seinem Film hätten sich hingegen nie negativ geäußert. „Kann natürlich sein, dass sie untereinander heimlich ganz anders gesprochen haben …“ Felix Ahrens will das nun nicht mehr ausschließen. Am Ende des Films wird aus der Jägerin eine Gejagte. Die Polizistin flüchtet während der Kontrolle in den Wald, wie der von ihr erschossene Tscheche. Verfolgt von deutschen Beamten. Es bleibt offen, wie sie selbst aus dieser Nummer rauskommt.

Doch zwei Dinge will der Regisseur am Ende des Gesprächs noch einmal unbedingt ansprechen. „Wir wollten nicht die deutsch-tschechischen Beziehungen interpretieren“, stellt er nachdrücklich heraus. Und: „Wir wollten damit niemand beleidigen.“ Felix Ahrens ist es ziemlich wichtig, dass das auch in Tschechien so gesehen wird.