(Fast) alles wie früher

(Fast) alles wie früher

Die Staatsoper in Prag erstrahlt wieder im alten Glanz. Angelo Neumann, der erste Direktor des Hauses, wäre hocherfreut

23. 1. 2020 - Text: Jiří Peňás, Übersetzung: Josef Füllenbach, Titelbild: Národní divadlo / Jakub Fulín

Drei Jahre lang wurde die Prager Staatsoper von Grund auf renoviert, seit dem 5. Januar 2020 wird dort wieder gespielt. Also gesungen und gespielt. Als erste Vorstellung stand Beethovens „Fidelio“ auf dem Programm, der für den ersten Direktor des Hauses, Angelo Neumann, schicksalhaft war. Denn während der Probenabnahme zog er sich im Dezember 1910 hier im Theater eine Erkältung zu, der er rasch und noch vor Weihnachten erlag.

Heute kann das nicht wieder so unversehens geschehen: Im Rahmen der Renovierung, die 1,3 Milliarden Kronen [umgerechnet rund 52 Millionen Euro; Anm. PZ] verschlang, wurde selbstverständlich auch die Heizung komplett erneuert, ebenso die Kühlungs- und Belüftungstechnik, wie auch alle diese komplizierten Installationen und High-Tech-Errungenschaften neu sind – einschließlich der in die Sitze eingebauten Bildschirme, die einen zu der Annahme verleiten, der gelangweilte Zuschauer solle sich durch Surfen im Internet und den sozialen Netzen ablenken. Tatsächlich laufen dort die Untertitel sowie andere Informationen über das Display, die man nun nicht mehr aus dem Programmheft heraussuchen muss …

Jeder Platz verfügt über einen Monitor. | © JFü

Der größte Anteil der Kosten entfiel freilich auf die hypermoderne Drehbühne, die so tief in den Boden eingebaut wurde, dass die Baustelle eine Zeit lang an einen aufgedeckten Untertagebau erinnerte. Jan Burian, der gegenwärtige Direktor des Nationaltheaters, zu dem die Staatsoper gehört, hat es so ausgedrückt: Die Eingeweide des gut 130 Jahre alten Gebäudes hat man mit der Technologie des 21. Jahrhunderts vollgestopft, dagegen wurde den sichtbaren Flächen innen und außen der Glanz des 19. Jahrhunderts zurückgegeben.

Das Haus sieht, mit anderen Worten, wieder so aus, wie eben Angelo Neumann „sein“ Theater kannte. Wenn er mal auf eine Zigarre aus dem Theater ins Freie träte, wäre er sicherlich sehr überrascht darüber, wohin er da geraten ist. Dort spränge er augenblicklich mit dem Ausdruck größten Entsetzens vor den dahinrasenden blechernen Gegenständen zur Seite, denn das Gebäude der Prager Oper ist auch insofern einzigartig, als es unmittelbar an der Stadtautobahn steht. Als weniger störend empfände er dagegen die Nähe zum Bahnhof, der ein paar Jahre früher um eine neue Halle im Jugendstil erweitert worden war, denn so hat es das auswärtige Theaterpublikum zum Beispiel aus Reichenberg oder Aussig näher, aber was zum Donnerwetter soll hier diese Autobahn?!

Verkehrsstau vor der Staatsoper | © Elis J, CC BY-SA 3.0 (2013)

Jedoch drinnen, drinnen fühlte er sich wie zu Hause, dort fiele ihm kaum etwas von all dem Neuen ins Auge, den glänzenden Spieglein (Displays) an den Sitzen schenkte er wenig Aufmerksamkeit, die sind für die Damen nützlich, wenn sie den Puder auffrischen wollen. Auch für die Herren, die gerne ihre Backenbärte kontrollieren. Wenn überhaupt über etwas, dann würde er sich am ehesten wohl wundern, wie es denn kommt, dass dort überall, im Foyer und in den Gängen, tschechische Hinweistafeln angebracht sind, etwa „vlevo“ [links] und „vpravo“ [rechts], wo sich doch Tschechen nur ausnahmsweise hierhin verirren, und wenn, dann eher aus Versehen oder wenn sie unbedingt etwas erledigen müssen: Sein Publikum geht denen doch auch nicht in ihre „Goldene Kapelle“ an der Ferdinandstraße … [„zlatá kaplička“ („goldene Kapelle“) taufte der Volksmund liebevoll das tschechische Nationaltheater am Moldauufer/Ecke Ferdinandstraße (heute Nationalstraße); Anm. PZ].

Und dann würde er sich beruhigen, denn ansonsten erblickte er alles an seinem angestammten Platz. Auch der Bühnenvorhang ist derselbe, den Eduard Veith malte, der Wiener Spezialist für mythologische und allegorische Szenen. Bei näherer Betrachtung nähme er vielleicht wahr, dass die Farben aufgefrischt sind, ja dass der Vorhang möglicherweise irgendwie gänzlich neu hergestellt wurde, aber im Aussehen ist er dem Original durch und durch treu: Ein Ritter der Kunst tritt ein in das platonische Reich der Ideen … Im Jenseits hätte Neumann zwar etwas darüber gehört, dass dort in den letzten Jahren irgendein Bild des Tschechen Antonín Střížek, eines guten Malers, gehangen habe, aber hierhin gehört doch eher der akademische Veith, nun gut.

Der Original-Vorhang verschwand nach Kriegsende. | © JFü

Dann setzte der Direktor seinen Rundgang fort und hätte Freude daran, dass man das Buffet im zweiten Stockwerk nach ihm benannt hat: Salon Angelo Neumann, das ist schön, würde er zu sich sagen, und ebenso wäre er damit einverstanden, dass die Büste Richard Wagners, die er als wahrer Wagnerianer dort einmal aufgestellt hatte, wieder auf ihrem Platz steht. Es ist doch immer noch das alte deutsche Theater, auch wenn jetzt eigentlich neu, würde der aus [dem slowakischen] Stupava bei Malacky stammende assimilierte Jude mit Befriedigung feststellen, der über Pressburg, Wien und Leipzig nach Prag gekommen war, wo seine Karriere ihren Höhepunkt erreichte.

Angelo Neumann war nämlich in seiner Zeit der einfallsreichste und erfolgreichste Theater-Impresario in Mitteleuropa. Heute würde man Produzent sagen oder Art-Manager. Er tat sich unter anderem damit hervor, dass er den alternden Richard Wagner davon überzeugen konnte, ihn mit den Aufführungen seiner Opern außer in Bayreuth zu betrauen, worauf sich das größenwahnsinnige, aber auch verschuldete Genie nur ungern einlassen wollte, aber letztlich stimmte er zu. Neumann reiste sodann mit einem auf Wagner spezialisierten Ensemble durch ganz Europa und verbreitete den Ruhm des Rheingolds und des Komponisten, der Juden ansonsten nicht gerade mochte.

Theaterintendant Angelo Neumann (1903)

Als es im Jahre 1887 den Prager Deutschen gelang, Neumann für das neu zu eröffnende Theaterhaus zu gewinnen, hatten sie zweifellos einen tollen Fang gemacht. Neumann lockte mit seiner imposanten Erscheinung, unterstrichen durch seinen mächtigen abstehenden Schnurrbart, dreißig Jahre lang die größten Namen der europäischen Opern- und Orchesterwelt nach Prag, so dass die Stadt immer wieder von Stars wie Enrico Caruso oder Vittorio Arimondi auf ihren Tourneen aufgesucht wurde und es in dieser Hinsicht mit Paris, Wien oder Berlin aufnehmen konnte. Mahlers Symphonien wurden hier zur gleichen Zeit wie die Premieren in Wien oder in Budapest aufgeführt – meist in Anwesenheit des Komponisten, der hundert Jahre nach Mozart erneut das Gefühl haben konnte, dass ihn die Prager verstehen.

Eher als „Praha“ war es verständlicherweise „Prag“, die Stadt, in der noch immer viel deutsch gesprochen wurde, besonders hier, im Umkreis dieses Gebäudes der Neorenaissance, an dessen Frontseite die Aufschrift Neues Deutsches Theater zu lesen war, und wo man direkt von der Freitreppe hinunter zur Herrengasse (Pánská) und dann weiter zum Graben (Na Příkopě) promenieren konnte, der luxuriösen Flaniermeile der damaligen deutschen Prager.

Am Graben (um 1890)

Zwar behaupteten die Deutschen das zahlenmäßige Übergewicht schon lange nicht mehr in Prag, nicht einmal in seinem Zentrum – zur Jahrhundertwende kamen sie ungefähr auf zwanzig Prozent der Bevölkerung –, doch bildeten sie nach wie vor die sogenannte Elite, also die höhere Schicht oder schlicht das kulturbeflissene Bürgertum, das gewohnt war, ins Theater zu gehen und dort ein qualitätsvolles Repertoire zu erwarten.

Es ist wohl kein Zufall, dass sie im Jahre 1888, als das Neue Deutsche Theater eröffnet wurde, endgültig den Einfluss auf den Prager Magistrat verloren, in dem von da an die Tschechen dominierten. Aber den kulturellen Primat wollten sie nicht auch noch verlieren, der in diesem schönen Jahrhundert gerade durch die Theater beglaubigt wurde. Vor allem durch diejenigen, in denen auf gebührendem Niveau der Gipfel der Künste gepflegt wurde, nämlich die Oper, die alle Genres verbindet und die größten Talente und das reifste Publikum erfordert. Nur da, wo man das Opernfach meistert, kann man sich den Kulturnationen zurechnen. Und wer führte es zu höherer Vollkommenheit als die Nation Wagners? Was allerdings nicht bedeutete, dass man hier nur Wagner auf die Bühne brachte. Wo sonst hätte Franz Werfel, der nur einen Steinwurf weit gegenüber wohnte, zu einer solch lebenslangen Liebe zu Verdi finden können, dass er über ihn einen berühmten Roman schrieb [Verdi. Roman der Oper, 1924; Anm. PZ]?

Gerade der Bau des zweiten repräsentativen deutschen Theaters in der Stadt sollte die kulturelle Dominanz der Deutschen unterstreichen. Zwar hatten sie das Ständetheater, wo seit den sechziger Jahren erneut ausschließlich Stücke in deutscher Sprache zur Aufführung kamen – die Tschechen hatten inzwischen ihr sogenanntes Provisorisches Theater und dann endlich ihr Nationaltheater. Doch nun sollte hier, am Rande des Stadtteils Königliche Weinberge, ein neuer luxuriöser Theaterbau entstehen, ein vollkommener Gegensatz zu der „Goldenen Kapelle“ am Moldauufer, dem 1883 eröffneten und auf völlig andere Weise imposanten Gebäude, für das die Tschechen Kreuzer für Kreuzer zusammengelegt hatten, und dennoch mussten der Kaiser und die Wiener Regierung etwas dazulegen.

Demgegenüber brachten die Deutschen die Baukosten ganz aus eigenen Mitteln auf, denn damals konnten sie es sich noch leisten. Sie bestellten bei der Wiener Großbaufirma Fellner und Helmer, den Lieferanten vieler Theaterbauten von Zürich bis Odessa, aus dem Katalog einen Entwurf, der ihnen genau passend erschien. Von außen ein antikisierender Musentempel mit einer Attika und dazu die Büsten der deutschen Genies Mozart, Schiller und Goethe, innen ein übernational verschnörkelter und aufgelockerter Neorokoko, leichtlebig elegant und bequem, angenehm für das Auge und bequem fürs Gesäß. Denn Wagner muss man aussitzen.

Angelo Neumann und Richard Wagner waren eng befreundet. | © JFü

Vor der Wende von 1989 bemerkte Petr Pithart in einem Essay zum Prag der Theater: „Das Neue Deutsche Theater konnte in einer beliebigen europäischen Metropole stehen, das Nationaltheater dagegen nur in Prag … Dieses war und ist ein Denkmal seiner Zeit. Der Zuschauer sollte sich in ihm seines Tschechentums vergewissern, sein nationales Selbstbewusstsein stärken. Das Nationaltheater war bewusst als ‚Erziehungsanstalt’ des tschechischen Volkes konzipiert. Im Neuen Deutschen Theater konnte sich der Zuschauer auch in die Gesellschaft begeben, sich zeigen und dann sich an einer schönen Aufführung erfreuen, sich unterhalten.“

Pitharts Essay aus dem Jahre 1987 (Z Prahy německé a židovské / Aus dem deutschen und jüdischen Prag) war einer von wenigen Texten, vielleicht sogar der einzige, der von tschechischer Seite die Existenz des deutschen Theaters in Prag überhaupt in Erinnerung brachte; und es war bezeichnend, dass er nur im Umfeld der Dissidenten entstehen konnte. Wer den Text aber zu Beginn der neunziger Jahre las (und das war beim Autor dieses Beitrags der Fall), entdeckte nahezu, wenn nicht eine ganz neue Welt, so doch einen neuen Prager Kontinent: den Kontinent der deutschen Prager Theaterkultur, die ihr beachtenswertes sprudelndes Leben führte, in manchem neben dem tschechischen Element, in manchem mit ihm in polemischer Beziehung, aber im Wesentlichen selbständig und unabhängig. Viel enger war sie mit dem deutschen Theaterleben außerhalb von Böhmen verbunden, von dort kamen die Ideen, die Impulse und auch die Persönlichkeiten, die auch wieder dorthin abwanderten.

Die deutsche Theaterszene in Prag war insofern eine Besonderheit, als sie eine Insel inmitten des emporstrebenden tschechischen Elements war, in mancher Hinsicht ähnlich der Prager deutschen Literatur, über deren Existenz die tschechische Umwelt ebenfalls kaum etwas wusste (oder wissen wollte), wie ja auch die deutschen Literaten sich nicht besonders für die Tschechen interessierten. Es war ein sich gegenseitig ignorierendes Zusammenleben, bei dem dennoch gelegentlich etwas durchblitzte, etwa als im Jahre 1898 das Orchester des Nationaltheaters seine Musiker dem deutschen Theater zur Aufführung einer Mahlerschen Symphonie auslieh, für welche die Deutschen nicht genügend Kräfte hatte. Aber, wie es Egon Erwin Kisch formulierte, ansonsten tat man so, als ob der andere nicht existierte: „Gastierte im tschechischen Nationaltheater die Comédie Française oder das Moskauer Künstlertheater oder ein berühmter Sänger, so nahm die deutsche Presse nicht die geringste Notiz davon, und die Kritiker […] verfielen gar nicht auf die Idee, einer solchen Vorstellung beizuwohnen. Andererseits vollzogen sich Gastspiele im deutschen Theater […] ohne Kenntnisnahme durch die tschechische Öffentlichkeit.“

Die „Goldene Kapelle“ an der Moldau | © Stefan Ludwig Photography

Als dann freilich „ihre“ Republik ausgerufen wurde, nahmen sie doch zur Kenntnis, dass es in ihrer Stadt zwei große deutsche Theater gab, was für einen tschechischen Nationalisten einer Frechheit gleichkam. Diese machten die tschechischen Nationalisten unter Beteiligung einiger Schauspieler im Oktober 1920 wett, indem sie das Ständetheater angriffen und in Beschlag nahmen. Das Ständetheater wurde mit Gewalt in tschechische Hände überführt, und diese Tat war ein Vorzeichen weiterer Konflikte, die schließlich zum bitteren Ende führten. Nicht dass dafür die Ereignisse im Theaterleben den Ausschlag gaben, aber sie signalisierten bereits, dass es hier bald um Kopf und Kragen gehen würde.

Das deutsche Theater in der Nähe des Bahnhofs lebte die folgenden zwanzig Jahre der Ersten Republik sein ziemlich intensives Leben, zeigte sich gegenüber neuen Entwicklungen offen und behauptete dabei einen hohen Standard: Glorreich war die Ära des Musikdirektors und bedeutenden Komponisten Alexander Zemlinsky.

Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 fanden einige deutschjüdische Künstler am deutschen Theater Zuflucht, und den im Grunde antinazistischen Charakter behielt das Theater bis zum Jahre 1939. Die Kriegsjahre waren dann immer stärker durch das Warten auf die deutsche Katastrophe geprägt. Am 8. Mai 1945 besetzten tschechische Aufständische das Theater, womit die Zeit des deutschen Theaters definitiv endete. In diesen Tagen ging der Bühnenvorhang „verloren“ und die Büsten der deutschen Klassiker landeten auf der Straße.

An der Magistrale (Mitte der fünfziger Jahre) | © Fortepan, Nagy Gyula, CC BY-SA 3.0

Neue Zeiten brachen an mit ihren Höhen und Tiefen, mit glänzenden Leistungen und langweiliger Routine. Das Theater nannte sich nun für lange Jahrzehnte nach Bedřich Smetana, übrigens auch er ein Wagnerianer. Von der Herrengasse wurde es durch die Stadtautobahn abgeschnitten. Von seiner ursprünglichen Basis durch die neuen Verhältnisse und allgemeine Ignoranz und Vergessenheit. Nach solchen dreißig, vierzig Jahren wussten nur noch einige Eingeweihte etwas von irgendeinem Neuen Deutschen Theater. Mit dem November 1989 hat sich vieles geändert, über die Geschichte von Prag und dessen frühere Zweisprachigkeit kann man schon wieder schreiben und sprechen, so dass derjenige, den das interessiert, Bescheid weiß. Und wen das nicht interessiert, der weiß ohnehin nie etwas. Und dabei weiß er über alles am besten Bescheid.

Angelo Neumann würde sich in seinem Theater heute schon nicht mehr verirren. Man kann sich vorstellen, wie er eine Weile aus seiner Loge auf das schauen würde, woran er dreißig Jahre lang gewohnt war, und dann würde er sich still und unbemerkt entfernen.

Blick auf die Bühne der Staatsoper | © ND / Jakub Fulín

Den Titel „Až k hořkému konci“ (Bis zum bitteren Ende) trägt eine im Jahre 2012 im Verlag Academia erschienene Monografie der Theaterhistorikerin Jitka Ludvová, in der sie umfassend und sehr anschaulich die letzten fünfzig Jahre des Prager deutschen Theaters schildert. [In der Prager Zeitung hat Friedrich Goedeking 2013 das Buch ausführlich gewürdigt; Anm. PZ].

Der Artikel ist im Original unter dem Titel „Návrat ředitele Anděla Neumanna“ in der Ausgabe 3 vom 16. Januar 2020 der Wochenzeitschrift „Echo“ erschienen.

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