Vom Lausbubenstreich zum Unglück

Vom Lausbubenstreich zum Unglück

Im Juni 1848 erstickten österreichisch-kaiserliche Truppen die Anfänge einer bürgerlichen Revolution in Prag

12. 6. 2013 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: MHMP

„Der Kampf war von Seite des Militärs fürchterlich. Die Soldaten rückten zu beiden Seiten des Trottoirs vor, in der Mitte fuhren die Kanonen. […]. So kamen sie allmählig bis zur Barrikade am Altstädter Ringe… Das Militär wurde nicht Herr dieser Barrikade; allein es gelang ihm, dem kämpfenden Civile von der anderen Seite in den Rücken zu kommen; es drang nämlich von der Zeltnergasse aus in die Teinkirche und von da unter die Laube derselben.“

Soweit aus dem Bericht eines Augenzeugen des blutigen Auftakts der Prager Ereignisse in der Pfingstwoche des Jahres 1848. Wer heute auf dem Altstädter Ring und in den Gassen ringsum seinen Geschäften nachgeht oder sich als Flaneur in der Menge treiben lässt, wird sich schwerlich die Dramatik des damaligen Geschehens zwischen den gotischen, Renaissance- und Barockfassaden vorstellen können. Es waren die ersten bedeutenden demokratischen Zuckungen eines aufstrebenden tschechischen sowie deutschböhmischen Bürgertums moderner Prägung. Doch wie konnte es so weit kommen, dass am Ende sogar die Prager Altstadt von der Kleinseite aus mit Kanonen in Brand geschossen wurde? Noch dazu vom Militär des eigenen Staates? Ein historischer Abriss schildert in den folgenden Zeilen die Vorkommnisse jener Tage, die in der hiesigen Historiographie ein Ereignis zweiten Ranges, für die Entwicklung hin zur „Nationalen Wiedergeburt“ und zum deutsch-tschechischen Gegensatz allerdings essentiell waren.

Die Pariser Februarrevolution 1848 wirkte für die in Kontinentaleuropa virulente liberale und nationale Bewegung wie eine Initialzündung. Die Habsburgermonarchie sah sich vor eine schwere Existenzkrise gestellt, ohne dafür gerüstet zu sein. Der österreichische Kaiser Ferdinand I. war schwachsinnig und fiel als politischer Akteur weitgehend aus. In seinem Namen regierte ein Staatsrat, gebildet von drei verknöcherten Greisen, die sich nur in einem Punkte einig waren: Dass die Sicherung der Macht oberstes Prinzip zu sein hatte. Der bedeutendste der drei war Fürst Metternich, inzwischen fast taub, gebrechlich und stets verdrießlich, so dass man ihm zu Recht den Spitznamen „Mitternacht“ angehängt hatte.

Die liberalen und nationalen Strömungen im deutschsprachigen Raum, das Streben nach  Unabhängigkeit in Ungarn und die Forderungen der im Staatsgebiet des Kaiserreichs lebenden slawischen Völker stellten Wien vor schwer lösbare politische Aufgaben. Das schwierigste Problem aus Wiener Sicht war indes der Zwiespalt zwischen dem Wunsch, im deutschen Einigungsprozess die starke Stellung im Deutschen Reich zu bewahren, und dem erklärten Willen, an der weit über die österreichischen Erblande hinausgreifenden Monarchie als Vielvölkerstaat festzuhalten. Dies kam wahrhaft einer Quadratur des Kreises gleich. Das Ergebnis der Straßenkämpfe Mitte März 1848 in Wien, nämlich der rasche Sturz des verhassten Staatskanzlers Metternich, brachte noch keine Lösung. Eher erschwerten sie den Erhalt der alten Ordnung. Die Reformkräfte, die je nach Nationalität und sozialer Zugehörigkeit an verschiedenen Strängen zogen, erhielten Auftrieb.

Radikalisierte Forderungen
Schon auf die ersten Nachrichten aus Paris hin forderte die Opposition in Böhmen die Einberufung des Landtags mit verstärkter Vertretung des Bürgertums. Nach dem grünen Licht aus Wien sagte der Prager Gubernialpräsident Graf Stadion dies zu, aber die Forderungen radikalisierten sich. Anfang März tauchten in Prag Flugblätter auf, die dazu aufriefen, an einer Versammlung am 11. März im Tanzsaal des Wenzel-Bades in der Neustadt teilzunehmen. Ziel war die Formulierung konkreter Forderungen an die Wiener Regierung –praktisch das erste tschechische politische Programm. Es behandelte Fragen des Staatsrechts, die Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen, Reformen des Gerichtswesens und der Verwaltung, die Aufhebung der Leibeigenschaft und Frondienste, Presse- und Versammlungsfreiheit.

Die Delegation, die den Forderungskatalog in Wien vorbrachte und verhandelte, traf dort zwar nicht auf Ablehnung, wurde aber in wichtigen Fragen auf die Entscheidung eines erstmals zu wählenden Reichsrats vertröstet. In Prag war die Enttäuschung groß, und man machte sich umgehend an die Ausarbeitung einer neuen Petition, welche die „Vereinigung aller zur böhmischen Krone gehörenden Länder“, Böhmen, Mähren und Schlesien, in den Vordergrund stellte.

Der zweite Anlauf schien zwar erfolgreicher zu sein, denn die allgemeinen politischen Forderungen, einschließlich diejenige nach Gleichberechtigung von Nation und Sprache, stießen in Wien auf Zustimmung, so dass dieser allerhöchste Bescheid in Prag begeistert aufgenommen und im Überschwang als „Böhmische Charta“ gefeiert wurde. Zur Forderung in Bezug auf die Länder der böhmischen Krone blieb Wien jedoch weiterhin hinhaltend. Bevor freilich ein Reichsrat darüber hätte befinden können, sprach sich der schlesische Landtag einstimmig gegen die Erneuerung der Einheit unter der böhmischen Krone aus, und Mähren lehnte ebenfalls „den Plunder der alten Pergamente“ ab. Die tschechische, genauer die Prager Politik blieb ohne die erhofften Verbündeten; die Fragmente des historischen Staates blieben getrennt.

In dieser Anfangsphase der revolutionären Bewegung gehörte die Initiative vorwiegend den tschechischen Protagonisten. Dennoch kam es noch nicht zu offenem nationalen Streit zwischen der deutschen und tschechischen Bevölkerung. Auf deutscher Seite gab es sogar Stimmen, welche die tschechischen Anliegen unterstützten. Als aber dann die Frage anstand, ob auch die Tschechen ihre Vertreter in die Frankfurter Paulskirche entsenden sollten, traten die Differenzen offen zu Tage.

Aus deutscher Sicht war die Teilnahme tschechischer Abgesandter eine Selbstverständlichkeit, vor allem in Hinblick auf die jahrhundertelange Zugehörigkeit der böhmischen Länder zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation sowie danach zum Deutschen Bund. Doch es war der große tschechische Historiker und Politiker František Palacký, der in seinem berühmten Antwortbrief vom 11. April die Einladung nach Frankfurt ebenso höflich in der Form wie klar in der Sache zurückwies. Seine beiden Hauptargumente waren erstens, dass das Alte Reich und der Deutsche Bund als reine Fürstenangelegenheit anzusehen seien. Ein Aufgehen der Tschechen in einem neuen deutschen Nationalstaat käme der Selbstaufgabe gleich.

Und zweitens bekannte er sich – politisch geschickt – zum österreichischen Kaiserstaat als dem einzig wirksamen Bollwerk gegen den Zugriff der russischen Universalmonarchie auf die kleineren slawischen Völker. „Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen“, so Palacký. Mit der Absage an das großdeutsche Konzept sprach er den meisten seiner Landsleute aus dem Herzen und legte den Gegensatz zu den Bestrebungen der Deutschböhmen umstandslos offen.

Deutsche als Landfremde
Diese forcierten nun von Wien aus die Wahl der Abgeordneten für die Paulskirche. Hierzu sollte sogar eine Wahlpflicht auferlegt werden, was von den Tschechen natürlich als Zumutung schroff zurückgewiesen und mit einer Agitation „gegen die Deutschen als Landfremde“ beantwortet wurde. Die Tschechen boykottierten schließlich die Wahlen und blieben der Paulskirche fern. Erstmals sprach in dieser an Invektiven nicht armen Kampagne die deutschböhmische Seite den Gedanken einer ethnischen Aufteilung der böhmischen Länder offen aus. Die tschechische Seite retournierte umgehend mit dem Vorwurf des Hochverrats. Damit waren die nationalpolitischen Gräben in einer Weise aufgerissen, die für die Zukunft nichts Gutes verhieß.

Mitte Mai kam es erneut zu blutigen Zusammenstößen in Wien, denn die aufoktroyierte Verfassung stieß auf Empörung. Der Kaiser floh mit seinem Hof verschreckt nach Innsbruck, und in Wien übernahm ein Sicherheitsausschuss der Bürger die Ordnungsmacht. Mit anderen Worten: Das Zentrum des Reiches befand sich im Auflösungsprozess. Durch diese Wendung ermutigt, versuchte in Prag der zum 1. Mai neu eingesetzte Gubernialpräsident Graf Leo Thun nun rasch den böhmischen Landtag einzuberufen, um Fakten schon vor einem künftigen Reichsrat zu schaffen. Aber jetzt legten sich die Deutschböhmen quer, da sie eine größere Selbständigkeit der böhmischen Länder im Rahmen einer von Palacký angestrebten Föderation brüsk ablehnten. Zusätzlich fühlten sie sich durch den Kongress der Slawen des Habsburgerreichs provoziert. Dieser fand in Prag als eine Art Gegenveranstaltung zur Paulskirchenversammlung statt. Tonangebend waren dabei die tschechischen Liberalen, angeführt von Palacký und dem namhaften Journalisten Karel Havlíček Borovský.

Als General Alfred Windischgrätz Anfang Juni nach Prag zurückkehrte und erneut das Militärkommando übernahm, spitzte sich die Lage rasch zu. Zur Einschüchterung der Aktivisten verstärkte er die Militärstreifen in den Straßen Prags und ließ auf den Hügeln ringsum Artilleriegeschütze in Stellung bringen. Die Soldaten provozierten nicht bloß durch ihre Anwesenheit, sondern auch gezielt durch Anpöbelung, Rempeleien und Handgreiflichkeiten – als ob man nach einem Anlass zum Losschlagen suchte. Der Ruf, vor allem der Studenten, nach Rückzug der Kanonen wurde immer lauter. Die Spannung, hervorgerufen durch die ostentative Demonstration der Stärke, stieg ins Unerträgliche.

Ohne Plan und System
Für Pfingstmontag organisierten Studenten, Arbeiter und Radikaldemokraten eine große Demonstration in Form einer Messfeier auf dem Wenzelsplatz. Nach deren friedlichem Verlauf zog die unbewaffnete Menge, dem plötzlichen Einfall eines Teilnehmers folgend, zur Militärkommandatur in der Zeltnergasse (Celetná), um dort lauthals die Absetzung Windischgrätz’ zu fordern. Dort angekommen, stürzten Grenadiere aus den Toren der Kommandantur, weitere Soldaten aus den Kasernen in der Nähe, und drängten die Menge mit aufgepflanzten Bajonetten und bald auch mit Schüssen in die umliegenden Straßen zurück. Blut floss, die ersten Toten waren zu beklagen. Spontan begannen die Aufständischen, überall Barrikaden zu bauen, alles in völligem Chaos, ohne Plan und System, und damit fast wirkungslos. Die Truppen hatten rasch die wichtigsten Straßen ebenso wie die Verbindung zur Kleinseite unter Kontrolle. Die beiden nächsten Tage vergingen mit ergebnislosen Verhandlungen. Windischgrätz forderte die bedingungslose Kapitulation und den Abriss aller Barrikaden, die Aufrührer bestanden vergeblich auf den Rücktritt des Generals.

Dieser ließ in der Nacht zum Donnerstag heimlich weitere Kanonen auf dem Ufer der Kleinseite aufstellen und ab dem frühen Morgen die Altstadt beschießen. Nachdem das nichts „half“, erfolgte am Freitagabend ein weiterer konzentrierter Beschuss der Altstadt; dabei gingen die Altstädter Mühlen und der Wasserturm nebenan in Flammen auf. In deren nächtlichem Schein verglühten alle revolutionären Hoffnungen. Gleich am Samstag folgte die Kapitulation, am Sonntag für Prag und Umgebung das Standrecht. Auf der Strecke blieben 43 Tote und 63 Verletzte.

In seiner kürzlich erschienenen kleinen Geschichte Böhmens nennt Lothar Höbelt den Pfingstaufstand einen „verspäteten Lausbubenstreich“. Das ist treffend, soweit damit das chaotische, ziel- und planlose Vorgehen der tschechischen Protagonisten gemeint ist. Diese hatten ja nicht einmal die Unterstützung führender Köpfe wie Palacký oder Havlíček Borovský. Der angerichtete Scherbenhaufen ging freilich über die Folgen eines Lausbubenstreichs hinaus: Erstens leitete die Prager Pfingstwoche den Sieg der Konterrevolution ein. Für Windischgrätz war Prag sozusagen eine Generalprobe für die Niederwerfung der Revolution in Wien einige Monate später. Zweitens geriet nun der nationale Gegensatz zur beherrschenden Konstante der Politik in den böhmischen Ländern. Die 1848 aufgerissenen Gräben begleiten uns bis in die heutigen Tage.

Palacký hatte wohl recht damit, den Aufstand ein „blankes Unglück“ zu nennen.

Das Jahr 1848

22. Februar  Ausbruch der Februarrevolution in Paris
13. bis 15. März  Wiener Märzrevolution; Sturz Metternichs
Ende März/Anfang April  In Prag Formulierung von Petitionen an die Wiener Regierung
8. April  Wien stimmt fast allen Forderungen zu
11. April  Palackýs Absagebrief an die Frankfurter Nationalversammlung
18. April  Frankfurter Nationalversammlung tritt zusammen
17. Mai  Nach erneuten Unruhen in Wien flieht der Kaiser nach Innsbruck
Ende Mai  Wahlen der Vertreter für Frankfurt in Böhmen, Mähren und Schlesien; tschechischer Boykott
2. bis 12. Juni  Slawenkongress in Prag
12. Juni  Ausbruch der Straßenkämpfe in Prag
15.–16. Juni  Beschießung der Prager Altstadt durch österreichische Truppen
17. Juni  Kapitulation der Aufständischen