Sündenfall Direktwahl?

Sündenfall Direktwahl?

Politologen und Verfassungsexperten sorgen sich um die parlamentarische Demokratie

17. 10. 2012 - Text: Martin NejezchlebaText: Martin Nejezchleba; Foto: M. Bertulat

Das Volk hat sie sich gewünscht, Politiker haben sie ermöglicht, Politologen warnen vor ihren Konsequenzen: Die Direktwahl des Präsidenten. Anfang kommenden Jahres hieven die Tschechen zum ersten Mal in der Geschichte ihr Staatsoberhaupt mit eigener Kraft auf die Prager Burg. Nachdem Václav Klaus 2008 erst in der dritten Runde und durch zähes Taktieren seinen Posten verteidigen konnte, war für viele Bürger klar: Entscheidend sind bei einer indirekten Wahl nicht die Voraussetzungen der Kandidaten, sondern deren Kontakte zu den Parlamentsvertretern. Zwischenzeitlich wünschten sich über 80 Prozent die Direktwahl. Die Regierung Nečas, die so auch einmal mit etwas anderem als unpopulären Kürzungen und Korruptionsskandalen Schlagzeilen machen konnte, brachte die direkte Wahl des Präsidenten schließlich auf den Weg. Die Experten zucken mit den Schultern.

„Es ist doch paradox“, sagt Politologie-Professor Tomáš Lebeda, „wir haben seit jeher ein Problem mit schwachen Regierungen und starken Präsidenten. Warum stärken wir dann das stärkere Glied der zweiköpfigen Exekutive und schwächen damit das schwächere?“ Die Frage fiel auch am vergangenen Freitag und erntete betretenes Schweigen. Die Václav-Havel-Bibliothek hatte zur Diskussion zum Thema „Präsidiale Tradition der Tschechoslowakei und Direktwahl in der Tschechischen Republik“ geladen.

Mickey Mouse for President
Die Zweifel wirkten zermürbend. Seit Masaryk blickten die Tschechen laut dem einstigen Klaus-Berater Tomáš Klvaňa auf den imposanten Hradschin, in der Erwartung, dass das „Väterchen der Nation“ das Fenster öffne und zum Volk spreche. „Wir tendieren zu einer übermäßigen Erhöhung von Autoritäten“, so Klvaňa. Klaus habe vor seiner ersten Wahl knapp ein Drittel der Bevölkerung hinter sich gehabt. Nach der Wahl zum Präsidenten sprangen die Zahlen auf 70 Prozent. „Das Amt an sich verleiht ein unglaubliches Ansehen. Wir könnten auch Mickey Mouse auf die Burg wählen“, scherzt der einstige Journalist und zieht den Schluss: Der Präsident gehört abgeschafft.

Ganz so weit gehen die meisten Politologen nicht. Allerdings verbindet sie die Furcht vor einem Ruck zum semipräsidentiellen Regierungssystem, auf den die Verfassung nicht vorbereitet ist. Die Wahl durch das Volk stattet den Staatschef mit einem starken Mandat aus, und setzt ihn unter Handlungsdruck. Seine Rechte und Pflichten allerdings blieben bei der Einführung der Direktwahl unangetastet. Der Präsident der Tschechischen Republik „sollte eher als unauffälliger Moderator politischer Diskussionen wirken, als gelegentlicher Konsens-Sucher, verdeckter Stimulator“, schrieb Václav Havel knapp drei Wochen nach der Trennung der Tschechoslowakei in der Zeitung „Mladá fronta Dnes“. „Vereinfacht gesagt: Vielmehr als selber zu „spielen“ sollte er die Regeln des Spiels wahren.“ In letzter Konsequenz hat sich auch Havel nicht an diesen Anspruch gehalten, Klaus hat ihn völlig über Bord geworfen.

Glaubt man Erik Tabery, Chefredakteur der Zeitschrift „Respekt“, dann sind die Probleme, vor denen die Politologen warnen, längst Realität. Als höchster Staatsrepräsentant verteidigt Václav Klaus vor allem seine persönlichen Ansichten – die Beispiele Europapolitik und Klimawandel sprechen Bände. Bleibt man beim Beispiel EU, dann senden Präsident Klaus, Premier Nečas und Außenminister Schwarzenberg völlig unterschiedliche Signale an die Verhandlungspartner.

Amtssitz Burggraben
Klaus’ jüngste Offensive gegen die Regierung entspringt auch seinem großen Einfluss auf die Bürgerdemokraten, deren „Rebellen“ gegen das geplante Steuerpaket er momentan für seine Zwecke mobilisiert. Wird das Staatsoberhaupt nicht durch Abgeordnete und Senatoren gewählt, könnte laut Tabery die Verflechtung zwischen Burg und Parlament zumindest teilweise aufgelöst werden. Der Präsident könnte sich vermehrt auf seine Rolle als Schiedsrichter im Havelschen Sinne konzentrieren.

Ob das eintrifft, hängt vor allem davon ab, wer die Wahl im Januar gewinnt. Wie unterschiedlich die Präsidentschaftskandidaten ihre Rolle sehen, zeigte auch die Diskussion am Freitag, zu deren Abschluss einige der Aspiranten gegeneinander antraten. Während sich die Europaabgeordnete Zuzana Roithová eher als Konsens-Sucherin stilisierte, will der unabhängige Kandidat Vladimír Dlouhý eine Diskussion um eine Neudefinition des Präsidentenamtes anregen.

Blicke in die Slowakei und nach Österreich zeigen, dass auch parlamentarische Demokratien gut mit einem direkt gewählten Präsidenten auskommen können. „Unsere Schwäche sind unserer Erwartungen“, entgegnet der Experte für Verfassungsrecht Jan Kudrna. „Wir hoffen aus Tradition, dass der Präsident unsere Probleme löst.“ Um seine Gäste mit einem Schmunzeln zu entlassen, erwägt Polit-Experte Jiří Pehe noch einen geografischen Faktor: Vielleicht wäre es gut für das verfassungsrechtliche Gleichgewicht und die kollektive Psyche, den Präsidentensitz vom Hradschin irgendwo in den Burggraben zu verlegen.

Zwei Fragen, fünf Kandidaten

Acht Anwärter erfüllen derzeit die Kriterien für eine Präsidentschaftskandidatur. Sie stellen sich – zusammen mit denen, die noch bis Ende Oktober die nötigen Unterschriften oder Abgeordnetenstimmen sammeln – der Wahl zum ersten direkt gewählten Staatsoberhaupt Tschechiens. Zwei Fragen liegen auf der Hand. Da drei heiße Anwärter auf den Amtssitz Prager Burg bei der Diskussion am vergangenen Freitag nicht anwesend waren, stellten wir ihnen die Fragen separat. Allein Jan Fischer nahm die Herausforderung an. Während Miloš Zeman gar nicht auf die Anfrage der „Prager Zeitung“ reagierte, hatte Außenminister Karel Schwarzenberg einen so vollen Terminkalender, dass seine Antworten der Redaktion auch am späten Dienstagabend noch nicht vorlagen.

1. Warum sollten gerade Sie Staatspräsident werden?
2. Wie werden Sie mit gestärktem Mandat aus der Direktwahl das Mächtegleichgewicht in der parlamentarischen Demokratie wahren?

Jiří Dienstbier, Kandidat der ČSSD
1. Zwei Staatsoberhäupter haben unsere präsidiale Tradition begründet: Masaryk und Havel. Sie haben sich in ihrer Zeit tapfer verhalten. Ich will mich nicht mit ihnen vergleichen. Aber jeder, der ihr Amt anstrebt, sollte auch den Mut besitzen, sich nach ihren Grundsätzen zu verhalten. Bieten kann ich meine persönliche Integrität, die Energie eines relativ jungen Kandidaten, und die Lebenserfahrung zwischen Dissidenten aufgewachsen zu sein, zwischen Leuten, die den Mut hatten, gegen das System zu kämpfen.“

2. „Auf der Ebene der Verfassung darf sich nichts ändern. Wir sind und bleiben eine parlamentarische Demokratie. Die Angst, ein direkt gewählter Präsident könnte seine Befugnisse eher überschreiten, teile ich nicht. Letzten Endes haben alle Präsidenten ihre Befugnisse überschritten, das hängt mit ihrer Persönlichkeit zusammen. Ich denke, dass ein direkt gewähltes Staatsoberhaupt eine viel größere Verantwortung gegenüber dem Volk hat, sich an die Verfassung zu halten.“

Vladimír Dlouhý, Bürgerkandidat
1. „Ich bekenne mich zu meinem Ego, zu meinen Ambitionen. Ein Stück weit sehe ich die Wahl auch als Test meiner selbst. Denn ich habe vieles anzubieten. Ich lehre seit Jahren an renommierten Universitäten im In- und Ausland, habe solide Ansichten, internationale Kontakte, eine politische Vergangenheit in der Nachwendezeit. Ich spreche fünf Sprachen, drei davon fließend. Ich möchte den Menschen ihr Selbstvertrauen zurückgeben, damit sie sich wieder in öffentlichen Angelegenheiten engagieren.“

2. „In meinem Kopf läuft folgende Kausalkette ab: Die direkte Wahl stärkt die Legitimität des Präsidenten. Das wiederum öffnet die Debatte über den entstandenen Zwiespalt: Wie passt man die Regelung der Exekutive dem neu definierten Mandat an? Es muss eine Diskussion darüber geben, wie wir, mit Blick auf langfristige Folgen, unser Wahlsystem anpassen.“

Přemysl Sobotka, Kandidat der ODS
1. „Ich gehe mit meiner politischen Erfahrung, meiner Entschlossenheit und meinen festen Meinungen ins Rennen. Für mich ist Demokratie ein heiliges Wort und für die Einhaltung ihrer Prinzipien werde ich mich einsetzen. Tschechien braucht eine einheitliche Außenpolitik. Diese sollte der Präsident nach außen vertreten und dabei an die Unternehmer denken. Das gilt für alle Politiker: Sie dürfen kein Business machen, sie sollen die Türen für das Business im Ausland öffnen.“

2. „Ich bin ein Verfechter der parlamentarischen Demokratie. Egal, ob wir nun direkt oder indirekt wählen, die Kompetenzen des Präsidenten bleiben gleich. Der Präsident, der ich gerne werden möchte, muss sich an die klaren Parameter halten, die ihm die Verfassung vorgibt. Dann sind da noch die ungeschrieben Regeln, die es dem Präsidenten in der Tradition von Masaryk erlauben, Themen aufzuwerfen, aktiv zu werden.

Jan Fischer, Bürgerkandidat
1. „Bei meiner Kandidatur bin ich vor allem von der großen Unzufriedenheit in der Bevölkerung ausgegangen. Die Direktwahl bedeutet, dass zum ersten Mal in 20 Jahren nicht ein Wettstreit zwischen Links und Rechts ausgetragen wird, sondern ein Wettstreit zwischen der Absicht, den Status quo zu halten und der Absicht, Veränderungen durchzusetzen. Die Leute erwarten eine grundlegende Veränderung der Politik, und ich möchte dazu beitragen.“

2. „Das Staatsoberhaupt hat neben wichtigen formellen Kompetenzen auch einen erheblichen informellen Einfluss. Ich will alle ungeschriebenen Möglichkeiten des Präsidenten voll ausschöpfen, um mich für die Bürger und deren Rechte einzusetzen, um gegen Extremismus zu kämpfen und die Politiker zur Anständigkeit anzuhalten, und um den Aufschwung der Bürgergesellschaft zu fördern.“

Zuzana Roithová, EU-Abgeordnete, Bürgerkandidatin, nominiert durch die KDU-ČSL
1. „Die Menschen wollen Veränderung, deswegen wollen sie auch die Direktwahl. Eine Frau auf der Burg wäre die größte Veränderung. Aus meiner Erfahrung als Medizinerin weiß ich, wie man den Leuten zuhört, was ihre Sorgen sind. Und ich habe politische Erfahrung. In beiden Funktionen habe ich immer gewissenhaft gehandelt.“

2. „Ich möchte mich für Stabilität in der Politik einsetzen und dabei die Verfassung respektieren. Als Präsidentin werde ich mich auf die Bedürfnisse und Werte der Menschen stützen. Ich möchte verbinden, nicht trennen, Brücken in der Politik bauen, Mediatorin und Moderatorin sein und eine einheitliche Außenpolitik repräsentieren.“