Geheimnisvolles Treiben

Geheimnisvolles Treiben

Kateřina Tučková legt mit „Das Vermächtnis der Göttinnen“ einen meisterhaften Roman vor

21. 10. 2015 - Text: Volker StrebelText: Volker Strebel; Foto: Prazak/CC BY-SA 3.0

„Eine merkwürdige Geschichte aus den Weißen Karpaten“ lautet der Untertitel dieses verstörenden Romans, der den Leser in seiner lautlosen und unheimlichen Wucht zu verschlingen droht. Erzählt wird von weisen Frauen, den sogenannten „Göttinnen“, die neben Wahrsagerei und der Kunst des Wettermachens nicht zuletzt uralte Kenntnisse über Heilkräuter hüteten. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein lebten sie in der Gemeinde Žítková im äußersten Südosten des bergigen Landstriches an der mährisch-slowakischen Grenze.

Dora Idesová war acht Jahre alt, als sie gemeinsam mit ihrem behinderten Bruder und ihrer Tante Surmena zuhause die erschlagene Mutter vorfand. Surmena handelte geistesgegenwärtig und beherzt, nahm die beiden Kinder in ihrer bescheidenen Hütte auf und versuchte nach besten Kräften, einen sogenannten normalen Alltag zu organisieren. Die Tante war eine dieser Göttinnen und die kleine Dora hatte fortan vor Ort das geheimnisvolle Treiben miterlebt. Zumal sie als sogenannter Engel auserkoren wurde, unschlüssige Fremde im Tal auf konspirative Weise der Göttin zuzuführen.

All diese Erlebnisse sind freilich schon lange Vergangenheit und Dora Idesová ist als Wissenschaftlerin am Institut für Ethnografie und Folklore der tschechischen Akademie der Wissenschaften beschäftigt. Seit langem recherchiert sie über das Phänomen der Göttinnen. Noch unter den ideologischen Bedingungen des „real existierenden Sozialismus“ hatte sie ihre Diplomarbeit „Die Göttinnen von Žítková“ verfasst. Ihr neues Projekt, da war sie sich sicher, würde bislang vorgegebene Grenzen überschreiten und völlig neue Perspektiven berücksichtigen. Mit der erstmals möglichen Einsicht in die Akten der Staatssicherheit eröffneten sich ungeahnte Einblicke, vor allem über das schreckliche Ende der Surmena, die eines Tages zu den Behörden vorgeladen wurde und niemals zurückgekehrt war. Gegen ihren Willen wurde Surmena in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Dort verstarb sie nach einigen Jahren unter erbärmlichen Bedingungen, während Dora und ihr Bruder Jakub den Rest ihrer Kindheit in verschiedenen Heimen verbringen mussten.

Die im Roman abgedruckten Aktenfunde belegen, dass die Staatssicherheit Surmena im Visier hatte. Noch in der Psychiatrie wurden akribische Berichte angefertigt, die zu einem eindeutigen Ergebnis kamen: „Verhältnis zur sozialistischen Ordnung: negativ“.

Himmler und die Hexen
Besonders ein gewisser Jindřich Švanc tat sich im Anschwärzen der Göttinnen hervor und sorgte dafür, dass Surmena weggesperrt wurde. Aber warum? Ein neuer Aspekt trifft Dora unvorbereitet und mit voller Wucht. Hatte ihre Tante Surmena, hatten die Göttinnen etwa mit den deutschen Nationalsozialisten kollaboriert? In der Tat waren Mitarbeiter eines Hexen-Sonderkommandos von Heinrich Himmler auf die Göttinnen und auch Surmena aufmerksam geworden. Eigens reisten SS-Offiziere nach Žítková an und waren sich sicher, „Belege für germanische Abstammung der sogenannten Göttinnen“ gefunden zu haben. Sie waren davon überzeugt, in diesen Bergen Reste einer uralten Kultur gefunden zu haben, die nicht dem in Europa üblichen schädlichen jüdisch-christlichen Einfluss ausgesetzt war.

Erst mit der Zeit erlangt Dora die Einsicht, dass weder die tschechischen Kommunisten, noch die deutschen Nazis den entscheidenden Anteil am tragischen Schicksal ihrer Tante, ja auch ihrer mit einem Beil erschlagenen Mutter trugen. Die Wurzel allen Übels lag in einem Fluch, der in der eigenen Familien­geschichte verankert war.

Dora, die jetzt endlich die ganze Geschichte ihrer Herkunft wissen wollte, begann die letzten noch lebenden Dorfbewohner auszufragen, die ihre Familie gekannt hatten. Bald schon hatte sie bemerkt, dass ihre Umgebung Wissen zurückhielt. Ungeduldig bedrängte Dora die 95-jährige Irma Gabrhelová: „Aber haben Sie eine Ahnung, wie furchtbar sich das anfühlt, wenn man auf den Trümmern der eigenen Familie lebt und nichts von ihr weiß? Da wird man glatt verrückt. Als würde man Ihnen eine Geschichte erzählen und dabei nur jeden fünften Satz laut sagen und dann auch noch das Ende weglassen.“

Unerbittlich, wie die Windungen in einer Schraube, sollte sich Doras Schicksal erfüllen. Das Ende dieses Romans, der wie ein Wachtraum wirkt, ist so überraschend wie unerbittlich. In einem Epilog rauscht auf den Berghöhen von Kopanice versonnen der Wald und Fichtenzweige winken: „Aber warum bewegen sie sich, wo ringsum totale Windstille herrscht?“ Eine Frage, die Dora schon nicht mehr beantworten kann. Und auch nicht Kateřina Tučková, die einen meisterhaften Roman vorgelegt hat.

Kateřina Tučková: Das Vermächtnis der Göttinnen, aus dem Tschechischen von Eva Profousová. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015, 412 Seiten, 22,99 Euro, ISBN: 978-3-421-04630-7