Zwischen Umbruch und Normalität

Zwischen Umbruch und Normalität

Revolution in Karlín: Das einstige Industrieviertel hat die erste großflächige Tempo-30-Zone der Stadt eingeführt

17. 10. 2012 - Text: Martin NejezchlebaText und Foto: Martin Nejezchleba

Von einer „revolutionären Veränderung“ ist die Rede. Der achte Prager Bezirk gibt sich sichtlich stolz ob der Neuerung im Straßenverkehr. Seit wenigen Wochen rühmt sich das einstige Industrieviertel Karlín mit der ersten flächendeckenden Tempo-30-Zone in der tschechischen Hauptstadt. Was dem Chauffeur aus Deutschland, Frankreich oder der Schweiz längst vertraut ist, bringt so manchen tschechischen Kraftfahrer gänzlich aus der Fassung. „Was? Wo? Das gilt schon?“, reagiert erschrocken eine ältere Dame, die gerade mit ihrem Hund Gassi geht, im Vorbeigehen. „Wissen Sie, wie schrecklich langsam 30 km/h im Auto sind?“, hört man sie noch rufen, bevor ihre Stimme im Blätterrauschen untergeht.

Sie ist nicht die Einzige, die sich noch an die neuen Regeln gewöhnen muss. Ein grinsender junger Mann saust mit seinem schwarzen Fahrrad durch den milden Herbstwind. Auf dem Gehweg. Die wohl fahrradfreundlichsten Straßen der Stadt lässt er links liegen. Auf denen hält sich auch längst nicht jeder Fahrer an das verblüffende Tempolimit. Das Verkehrsaufkommen ist bislang alles andere als ruhig.

Rausch der Geschwindigkeit
Alles eine Frage der Zeit, denkt Tomáš Cach. Er – Architekt, Stadtplaner, Fahrradfahrer – steckt hinter der Revolution. Nach einem längeren Aufenthalt in Paris klopfte der fröhliche Bartträger beim Rathaus von Prag 8 an. Knapp zwei Jahre und unzählige mühsame Verhandlungen später ist es dann so weit. In den meisten Karlíner Straßen darf Tempo 30 nicht überschritten werden. Weiße Piktogramme auf dem Asphalt bedeuten: Fahrräder dürfen von beiden Seiten in die zahlreichen Einbahnstraßen des Viertels. Cach zeigt mit der rechten Hand auf kreisrund angeordnete gelbe Bodenwellen: „Das sind Maßnahmen, die später verschwinden sollen, sobald sich die Autofahrer an die neuen Regeln gewöhnt haben.“

Das würde ihm auch Gerd-Axel Ahrens raten. „Zahlreiche Studien haben bewiesen: Es ist kontraproduktiv, durch Hindernisse ungleichförmige Geschwindigkeiten zu erzeugen“, erklärt der Professor für Verkehrs- und Infrastrukturplanung von der TU Dresden. Er reagiert damit auf ein großes Fragezeichen, das auch die Gegner der Verkehrsberuhigung in Karlín anführen. Da heißt es unter anderem, es sei nicht bewiesen, dass eine verringerte Geschwindigkeit tatsächlich zu sauberer Luft führe. „Das war auch hier und in der Schweiz ein Thema“, erinnert sich Ahrens. „Das Gegenteil ist nachweislich der Fall: Das sogenannte Geschwindigkeitsrauschen, also die Beschleunigungs- und Bremsanteile auf der Fahrstrecke nehmen mit geringerem Geschwindigkeitsniveau ab – und damit auch die Emissionen“, räumt der Experte die Zweifel beiseite.

Michal Švarc, Stadtrat für Verkehr, ist zufrieden mit der Neuregelung. „Bislang höre ich überwiegend Positives von den Anwohnern“, sagt der stellvertretende Bürgermeister von Prag 8. Die verkehrsberuhigte Zone befände sich in der Test-Phase. Fraglich sei für Švarc, ob sich die Auflösung der Einbahnstraßen für Fahrradfahrer bewähre. Am Tempolimit wolle er aber auf jeden Fall festhalten. „Wenn das jemand von außen kritisiert, dann frage ich immer, ob er wirklich etwas dagegen einzuwenden hätte, wenn die Straßen vor seiner eigenen Haustür ruhiger und sicherer würden“, sagt der Vertreter der konservativen Partei TOP 09. Der Verkehr sei bereits um rund 20 Prozent zurückgegangen. Vorher, so Švarc, seien die Straßen des Wohnviertels als Zubringer zur nahen Stadtautobahn und ins Zentrum missbraucht worden.

Späte Kritik
Zu den Kritikern zählt František Čech. Er ist Koordinator der Initiative OSBID, was im Tschechischen für „Bürger für freien und sicheren Individualverkehr“ steht. Auf die Frage, was er ernsthaft gegen langsame Autos in Wohngebieten einzuwenden habe, kommt Čech ins Stocken. „Gegen das Tempo-Limit an sich haben wir eigentlich nichts. Uns stört, dass in Karlín eine flächendeckende Änderung angeordnet wurde, ohne dass vorher eine breite Diskussion stattgefunden hat und ohne dass mögliche Auswirkungen näher erforscht wurden.“

OSBID bereite derzeit eine Kampagne gegen die Tempo-30-Zonen vor. Genaueres könne Čech im Moment noch nicht verraten. Verhindern wolle man aber, dass Karlín Vorbild für andere Stadtteile wird.

Dafür ist es bereits zu spät. Denn bis Ende des Jahres sollen auch in Prag 6 erste Tempo-30-Schilder aufgestellt werden. „Später kommen dann Teile der Viertel Hradčany, Dejvice und Bubeneč hinzu“, sagt Bürgermeisterin Marie Kousalíková. Auch die Stadtbezirke 2 und 3 erwägen eine entsprechende Geschwindigkeitsbegrenzung.

Im Grunde genommen kann Cach also mit seiner Revolution zufrieden sein. Der Bremsweg der Autos in Karlín hat sich auf 13 Meter verkürzt. Laut Verkehrsexperte Ahrens liegen die Vorteile auf der Hand: „Höhere Sicherheit und Aufenthaltsqualität, weniger Unfälle, Lärm, Luftschadstoffe und Flächenverbrauch für den fließenden Verkehr. Mehr Platz für Bäume und zum Spielen.“ In Deutschland werden verkehrsberuhigte Zonen bereits seit den achtziger Jahren erforscht. Ahrens,  Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bundesverkehrsministeriums, setzt sich für die Herabsetzung des generellen Tempolimits in Ortschaften auf 30 Stundenkilometer ein.

Cach hat Karlín mit Bedacht für sein Experiment ausgesucht. Die großen Wohnblocks aus der Ersten Republik durchzieht ein gleichmäßiges Straßenraster, das Viertel am Moldau-Ufer ist so eben wie kaum ein zweites in der hügeligen Hauptstadt und kann zugleich als einziges in Prag mit Bike-Sharing-Stationen aufwarten.

Ungewohnt normal
Zeit zum Zurücklehnen hat Cach jedoch nicht. Er ist Mitglied der Kommission für Fahrradverkehr der Hauptstadt Prag und möchte an der Ausweitung auf andere Stadtteile mitwirken. Zudem seien die Diskussionen in Karlín noch lange nicht am Ende. Moniert würde beispielsweise die neue Beschilderung der Einbahnstraßen, an vielen Ecken und Bordsteinen gebe es noch Bedarf für Ausbesserungen. Cach muss weiter. Mit einem Fußtritt bringt er sein oranges Klapprad in Stellung und biegt in die mit Laub vergoldete Einbahnstraße ab.

Das geschäftige Treiben unter dem Vítkov-Hügel geht indes weiter. Nach der Jahrhundertflut von 2002 ist das einstige Arbeiterquartier zur Business-Zentrale geworden. Bröckelnde Fabriken wurden zu Glaspalästen. Großzügige Gründerzeit-Häuser und der eine oder andere Backstein-Schlot zeugen von der Vergangenheit.

Lob kommt unerwartet. Ein Motorradkurier kommt beim Wort Tempo-30-Zone ins Schwärmen. Ob er nun nicht später zu seinen Kunden komme? „Wegen der paar Meter, die ich nicht auf der  Hauptstraße fahre? Das macht zeitlich nun wirklich keinen Unterschied“, strahlt der junge Mann hinter seiner blau umrandeten Brille. Knacksen, Rauschen, der nächste Auftrag tönt aus dem Funkgerät. „Kaum ein Fahrradfahrer hält sich an die Einbahnstraßen. Ist nur richtig, dass man das legalisiert und gleichzeitig sicherer macht“, sagt er und stülpt sich seinen schwarzen Helm über den Kopf. Die Revolution in Karlín ist längst Normalität. Auch wenn sich so mancher Autofahrer noch daran gewöhnen muss.