Zufriedene Ostböhmen
Eine Reise durch die Kreise – Teil 5: Wichtiges Industriezentrum mit Luft nach oben – in und um Pardubice begegnet man vielen Lokalpatrioten
14. 9. 2016 - Text: Ivan DramlitschText und Fotos: Ivan Dramlitsch
Der Cappuccino im Café „Levandule“ am Marktplatz von Heřmanův Městec schmeckt erstaunlich gut, fast so wie in einem Prager Kaffeehaus. David Hainall trinkt allerdings lieber Tee. „Ich wohne gerne hier. Ich habe hier alles, was ich brauche, vor allem ist es schön ruhig“, sagt der 40-Jährige, der seit 2003 in dem 5.000-Einwohner-Ort lebt. Der selbstständige Reiseführer, Autor und Fotograf ist für tschechische Verhältnisse richtig herumgekommen – aufgewachsen in Südmähren, dann längere Zeit in Prag, schließlich in Ostböhmen Wurzeln geschlagen. „In Prag hätte ich vielleicht beruflich mehr Möglichkeiten, aber das ist es mir nicht wert. Mir gefällt es hier einfach viel besser“, so Hainall.
Ähnlich wie er denken die meisten Bewohner von Heřmanův Městec, es herrscht ein ausgeprägter Lokalpatriotismus. Und wenn man so durch den Ort streift, kann man das durchaus verstehen: Ein gepflegter Marktplatz, ein Schloss mit einem prächtigen Park im englischen Stil, viele Kneipen und Restaurants, ein Kino, hübsche Häuser mit gepflegten Gärten. Wohnen lässt es sich hier also durchaus, Geld verdienen allerdings weniger. Zur Arbeit fahren die meisten in die umliegenden größeren Orte, nach Přelouč, Chrudim und vor allem nach Pardubice.
Brachen und Baustellen
Die Kreishauptstadt ist etwa 14 Kilometer entfernt, mit dem Auto fährt man 20 Minuten, der Bus, der auch die umliegenden Dörfer bedient, braucht etwas länger. Bahnreisende – die Fahrt von Prag dauert eine knappe Stunde – empfängt Pardubice nicht gerade von seiner charmantesten Seite. Ein schmuckloses Bahnhofsgebäude, das auf seine Sanierung wartet, vor dem Bahnhof eine vielbefahrene Straße, links ein graues Einkaufszentrum nebst Fastfood-Lokal, davor ein großer Parkplatz. Und auch während der kurzen Fahrt ins Zentrum mit einem der typischen Trolleybusse kommt keine Begeisterung auf.
Vorwiegend sozialistische, fantasielose Bausubstanz, Baustellen, Brachen, ein kastenförmiges Einkaufszentrum. Erst in der Nähe der Altstadt kommen urbane Gefühle auf: an der „třída Míru“, dem Pardubicer Flanierboulevard. Die „Straße des Friedens“ säumen Gründerzeithäuser im Jugendstil, Cafés reihen sich an Geschäfte, es herrscht ein reges Treiben. Die kleine Altstadt mit dem prächtigen Marktplatz, den kleinen Gassen, schmucken Fassaden und zahlreichen Restaurants entschädigt schließlich für das anfangs etwas lieblos wirkende Stadtbild.
Dass es in der Stadt vorangeht, bestätigt Klára Zehnalová. „Die positiven Veränderungen sind deutlich zu sehen, vieles wurde renoviert, die třída Míru, der Tyrš-Park – der öffentliche Raum wurde geradezu wachgeküsst, eine Veranstaltung jagt die nächste, die Biergärten sind voll, man kann so viel unternehmen“, erzählt die 30-Jährige nahezu euphorisch. Sie hat sich bewusst für Pardubice entschieden, hat hier Arbeit und Wohnung gesucht – und gefunden. „Aber um nicht nur zu schwärmen: Was die Verkehrssituation angeht, ist noch viel Luft nach oben“, spielt die Bürokauffrau auf die zahlreichen Baustellen an, die ständig zu Staus führen und die Autofahrer regelmäßig in den Wahnsinn treiben.
Verkehr und Straße sind ein großes Thema nicht nur in der Stadt, sondern für den gesamten Kreis. „Wir haben den Vorteil der zentralen Lage. Durch unseren Kreis führt der Eisenbahnkorridor Berlin – Prag – Wien und die Anbindungen nach Deutschland, Österreich und in die Slowakei sind gut“, beschreibt Kreishauptmann Martin Netolický einen Standortvorteil. „Ärgerlich ist aber, dass es mit dem Bau der D35 nicht richtig vorangeht. Darunter leidet unsere Region spürbar“, so der 33-jährige Sozialdemokrat.
Die Autobahn D35 ist das regionalpolitische Thema Nummer eins. Seit 1963 in Planung, sollte sie von Hradec Králové quer durch Ostböhmen bis nach Olomouc in Mähren führen. Der Bau ist grundsätzlich nicht umstritten, er soll die vollen und oft reparaturbedürftigen Landstraßen entlasten, die strukturschwachen Regionen im Osten des Landes anbinden und auch als alternative Ost-West-Verbindung der Autobahn D1 dienen. Der Teufel steckt jedoch im Detail. Zahlreiche Konflikte um die Streckenführung und Probleme beim Kauf der Grundstücke haben das Projekt zwischenzeitlich nahezu zum Erliegen gebracht. Derzeit sind von 174 Autobahnkilometern nur 62 Kilometer in Betrieb, an einem wird gebaut und 111 Kilometer befinden sich in der Vorbereitungsphase. Mit einer Fertigstellung wird nicht vor 2025 gerechnet.
Neben der Verkehrsinfrastruktur plagt den Kreishauptmann vor allem ein Arbeitsmarktproblem. „Wir haben es derzeit mit einem Trend zu tun, bei dem man nicht mehr von Arbeitslosigkeit, sondern eher von Vollbeschäftigung sprechen kann; das hemmt jedoch bestimmte Investitionsvorhaben, da es in manchen Branchen Probleme gibt, geeignetes Personal zu finden“, beschreibt Netolický den Fachkräftemangel, unter dem auch andere Regionen leiden. Für das Ballungsgebiet Pardubice stellt er jedoch eine besondere Herausforderung dar. Es gilt als Industriezentrum im Osten Böhmens, traditionell sind vor allem die chemische, die Maschinenbau- und die Elektroindustrie stark vertreten.
Die Wirtschaftsdaten bestätigen, dass Arbeitslosigkeit kein wesentliches Problem der Region darstellt. Die Erwerbslosenquote von 3,9 Prozent (Stand: August 2016) ist eine der niedrigsten im ganzen Land. Insgesamt zeigen die Zahlen aktuell eine allgemeine Wirtschaftsbelebung – die Umsätze der Unternehmen sowie die Gehälter steigen schneller als im Landesdurchschnitt, auch das Bruttoinlandsprodukt zeigt steigende Tendenz. Fakt ist aber auch, dass die in der Region gezahlten Löhne und Gehälter seit langem zu den niedrigsten des Landes gehören.
„Edle Traditionen“
Auch im Bereich Tourismus wird gerne auf steigende Gästezahlen verwiesen. Dennoch gehört der Kreis zu den am wenigsten besuchten in Tschechien. Und das obwohl man mit der Unesco-Welterbe-Stadt Litomyšl einen echten Höhepunkt zu bieten hat. „Wenn ich nur einen Ort im Kreis empfehlen dürfte, dann am ehesten Litomyšl. Dort wurde in den vergangenen Jahren viel investiert. Das Schloss und der historische Stadtkern strahlen eine einzigartige Atmosphäre aus“, so Josef Rychter, der als Projektmanager der kreiseigenen Agentur „Východní Čechy“ für das Tourismusmarketing der Region mitverantwortlich ist. Mit dem Slogan „Region edler Traditionen“ bemüht man sich vor allem um Familien mit Kindern und aktive Senioren, bei denen das Interesse an traditionellen Orten und Produkten Ostböhmens geweckt werden soll. Dazu gehören Kladruby nad Labem, wo die edlen Kladruber-Pferde gezüchtet werden, die überregional bekannten Freilichtmuseen in und um Hlinsko, aber auch Honig und Met aus dem Eisengebirge und der Pardubicer Lebkuchen. „Um heute Aufmerksamkeit zu erregen, muss man mit Alleinstellungsmerkmalen arbeiten“, sagt Rychter.
Ein besonderes Alleinstellungsmerkmal hat Svitavy (Zwittau), etwa 70 Kilometer südöstlich von Pardubice. Im Jahr 1908 kam dort Oskar Schindler zur Welt, der spätestens durch den Steven-Spielberg-Film „Schindlers Liste“ weltberühmt wurde. Svitavy tat sich jedoch lange schwer mit Schindler. Vor der Wende galt er hierzulande als Kriegsverbrecher, aber auch danach wurde man in seiner Geburtsstadt nicht sofort warm mit dem „Judenretter“ – ein ehemaliger deutscher Spion und NSDAP-Mitglied als „Markenzeichen“? Vor allem für die ältere Generation war das schwer akzeptabel. Mittlerweile hat sich das Verhältnis zu Schindler entspannt, es gibt mehrere Gedenktafeln, das Stadtmuseum zeigt eine Dauerausstellung. Neueste Pläne des Oskar-Schindler-Stiftungsfonds sehen vor, die verfallene Schindler-Fabrik in Brněnec (Brünnlitz) bei Svitavy in eine Holocaust-Gedenkstätte umzuwandeln.
Image-Probleme hat der berühmteste Sohn der Nachbarstadt Polička nicht. Der Komponist Bohuslav Martinů (1890–1959) ist neben Smetana, Dvořák und Janáček einer der „Großen Vier“ der tschechischen klassischen Musik. Entsprechend selbstbewusst wird sein Erbe in seiner Heimatstadt gepflegt. Überhaupt zeigen die Beispiele Svitavy und Polička, wie unterschiedlich Stadtgeschichte und das daraus resultierende Identitätsgefühl der Bürger sein kann. Während im vor 1945 mehrheitlich von Deutschen bewohnten Svitavy nahezu die komplette Bevölkerung ausgetauscht wurde, weist Polička eine bemerkenswerte Kontinuität auf.
„Überflüssige Gebilde“
„Polička ist eine Stadt mit Wurzeln. Hier gibt es Vereine, die auf eine 200-jährige Tradition zurückblicken. Jede Familie hat jemanden, der in einer der zahlreichen Laien-Theatergruppen aktiv war. Das wirkt sich positiv auf das kollektive Gedächtnis der Stadtbewohner aus“, erzählt Jan Jukl, Direktor der Stadtbibliothek und Abgeordneter im Stadtparlament. Er bezeichnet sich selbst als Polička-Patrioten – eine Eigenschaft, die er mit den meisten Stadtbewohnern teile. „Ich betrachte das als etwas Positives, denn dieser Patriotismus grenzt ja niemanden aus, sondern er führt dazu, dass sich die Menschen für ihre Stadt verantwortlich fühlen“, so der Mitdreißiger.
So sehr sich Jan Jukl mit seiner Stadt und seiner Region identifizieren kann, so skeptisch ist er gegenüber der Institution „Kreis“. „Für mich sind das überflüssige Gebilde, die Geld verschwenden“, so sein Urteil, das wohl viele seiner Landsleute unterschreiben würden. Kreishauptmann Netolický hat dafür sogar gewisses Verständnis: „Man kann nicht erwarten, dass künstlich entstandene Gebilde bei den Bürgern patriotische Gefühle hervorrufen. Aber zu sehen, wie Kinder und Jugendliche bei Wettbewerben bewusst für den Kreis Pardubice kämpfen, das macht mir jedes Mal eine große Freude.“
Pardubický kraj
Fläche: 4.518,59 Quadratkilometer (fünftkleinster von 14 Kreisen)
Einwohner: 516.149 (1. Januar 2016, sechstkleinste Zahl von 14 Kreisen)
Kreisstadt: Pardubice (89.638 Einwohner, 1. Januar 2016)
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