Wohnen für alle

Wohnen für alle

In der Nachkriegszeit sollten Plattenbausiedlungen das Wohnungsproblem lösen. Im Westen sind sie heute stigmatisiert, im Osten normal

17. 4. 2013 - Text: Sarah BorufkaText: Sarah Borufka; Foto: Nejezchleba

 

Das Viertel, in dem Radka Slavátová lebt, ist für Deutsche ein Zungenbrecher: Krč. Auch die Bebauung in diesem Prager Stadtteil bedient ein Vorurteil, das viele Westeuropäer gegenüber Tschechien – und dem gesamten ehemaligen Ostblock – hegen. Die Studentin wohnt mit ihrem Mann und ihrer zweijährigen Tochter in einer kleinen Wohnung, hoch oben im achten Stock eines Plattenbaus.

Das Stigma, das Plattenbauten in den Ländern Westeuropas anhaftet, existiert in Tschechien so nicht. „Es ist sehr ruhig in unserer Siedlung“, meint Radka. „Und trotzdem ist alles, was ich brauche, gleich um die Ecke: der Kindergarten, Ärzte, ein großer Supermarkt.“ Wie viele junge Eltern in Tschechien sehen auch Radka und ihr Ehemann im Leben „in der Platte“ eine gute Möglichkeit, trotz kleinem Geldbeutel relativ zentral zu wohnen.
Die Wohnung der Kleinfamilie ist penibel aufgeräumt und ziemlich vollgestopft. Radkas Vater hat im Wohnzimmer ein Hochbett eingebaut, um mehr Platz zu schaffen. Die Innenausstattung der Wohnung stammt aus dem Jahr 1967. Die Räume sind durch Wände aus gepresstem Karton, der mit Kunststoff überzogen ist, voneinander abgetrennt. Umakart heißt das Material in Tschechien, und war in der Hochzeit der Platte Standard. Heute werden solche Innenwände meist aus Gipskarton gezogen, der etwas mehr Geräuschschutz bietet.

Auch im Bad scheint die Zeit in den sechziger Jahren stehen geblieben zu sein. Lachend zeigt Radka auf das Waschbecken, das sich direkt über der Badewanne befindet. Wenn man duschen oder baden möchte, muss man es zur Seite klappen. Das sei nicht gerade praktisch, meint Slavátová lächelnd.

„Man merkt schon, dass diese Häuser schnell gebaut wurden und möglichst viele Familien auf möglichst kleinem Raum beherbergen sollten“, sagt die 26-Jährige. „Leider haben sie aber dem Zahn der Zeit nicht standgehalten. Weil die Wohnung meiner Mutter gehört, müssen wir uns um alle Reparaturen selbst kümmern.“
Zu Zeiten des Sozialismus schossen Plattenbausiedlungen wie Pilze aus dem Boden. Im Rekordtempo entstanden zehntausende Wohnungen. Sie galten als besonders luxuriös, in ihnen zu leben war ein Privileg.

„Der Plattenbauboom brach in der Tschechoslowakei in den sechziger Jahren aus“, erklärt der Soziologe Martin Lux, der sich vor allem Themen der Wohnpolitik widmet. „Dabei ist es wirklich wichtig, sich vor Augen zu halten, dass es dabei nicht etwa um Wohnraum für die Unterschicht ging. In den Plattenbauten wohnten angesehene Universitätsprofessoren neben Arbeitern. Damals galt es als das Wohnen der Zukunft, das Wohnen für alle.“

Plattenbauten wurden sogar oft in erhöhten Lagen gebaut, damit sie schon von weitem zu erkennen waren. Für die Kommunisten waren sie ein Statussymbol des sozialistischen Staates, in dem Wohnungsnot ein Fremdwort war.
Auch die Fotografin Jitka Hejtmannová erinnert sich an die freudige Überraschung, als ihre Familie erfuhr, dass sie in einen neuen Plattenbau in Louny, etwa eine Autostunde von Prag entfernt, ziehen können. „Meine Eltern waren begeistert: Zentralheizung, ein Aufzug, und 80 Quadratmeter für drei Leute“, meint Jitka, die mittlerweile in einer Prager Altbauwohnung lebt. „Für uns war das damals ein richtiger Luxus.“

Wie ein kleines Dorf
Die meisten der Wohnungen in Plattenbauten sind heute Eigentumswohnungen. Das schlägt sich auch auf das Klima in den Siedlungen nieder, meint Václav Třasák, der mit seiner Frau vor 25 Jahren in eine 100 Quadratmeter große Wohnung in der Siedlung Lužiny am Rande Prags gezogen ist. „Früher kannte man alle Nachbarn und ist oft im Aufzug oder auf dem Gang ins Gespräch gekommen“, meint der 50-jährige Werbefachmann. „Es war eigentlich ein bisschen wie ein kleines Dorf.“ Heute herrscht in der Platte meist Anonymität vor, Leute ziehen ein und aus, kaufen die Wohnungen als Investition und vermieten sie unter.

Entgegen aller Prognosen kam es nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes nicht dazu, dass Plattenbauten zu einem ausschließlich für sozial schwache Familien akzeptablen Wohnraum wurden. Die Entwicklung geht zwar weg von der Platte, jedoch deutlich langsamer als erwartet, so Lux. „Dennoch wohnen viele junge Familien nur noch übergangsweise in solchen Siedlungen“, erklärt er. „Sie ziehen dann in Häuser am Rand der Stadt. Der Trend in der Platte geht zu kinderlosen und älteren Bewohnern.“

Dass die Lage in den tschechischen Siedlungen besser ist als zum Beispiel im Osten Deutschlands, konnte auch der deutsche Soziologe André Schmahl feststellen. Im Rahmen seiner Diplomarbeit hat er Großwohnsiedlungen in Halle an der Saale und im mährischen Ostrava verglichen. „In ostdeutschen Plattenbausiedlungen kam es nach 1989 verstärkt zu Abwertungstendenzen“, so der Wissenschaftler. In Tschechien sei die sozio-ökonomische Mischung vielfältiger.

Und in der Tat tauchen in Deutschland gängige Probleme wie Leerstand, Abwanderung und die Konzentration sozial Schwacher in tschechischen Plattenbauvierteln seltener auf. „Das Wohnen in Großwohnsiedlungen ist in Tschechien weder mit einem Stigma belastet noch geht damit ein Imageproblem einher“, sagt Schmahl.
Laut seinem Prager Kollegen Lux hat aber auch in Tschechien das gute Image des Plattenbaus seinen Zenit bereits überschritten. Auch Radka plant nicht, ihr Leben lang in der Plattenbausiedlung zu wohnen. Sie vermisst vor allen Dingen eines: richtig dicke Wände. Denn darüber, dass man ständig hört, was die Nachbarn machen, beklagen sich eigentlich alle Plattenbaubewohner.

Der Text erschien zunächst auf www.goethe.de/jadu, dem jungen Online-Magazin des Goethe-Instituts in Prag