Wohin mit dem Atommüll?

Wohin mit dem Atommüll?

Wie Tschechien und Europa mit der Frage der nuklearen Endlagerung umgehen

7. 11. 2012 - Text: Stefan WelzelText: Stefan Welzel; Foto: Oliver Hallmann

Die Vorstellungen, wie die Weltgemeinschaft mit dem belastenden Erbe des radioaktiven Mülls umgehen will, schwanken seit 60 Jahren zwischen nüchterner Rationalität und absurd anmutenden Ideen. Wohin mit dem Müll? Das war und ist eine zentrale Frage, die bisher nicht eindeutig beantwortet werden konnte. Jahrelang überlegte man ernsthaft, die Abfälle der zivilen Nutzung der Atomkraft einfach ins All zu schießen. Oder – kein Witz – an den Rändern der kontinentalen Platten am Meeresgrund zu deponieren, wo sie dann im Laufe der Zeit ins Erdinnere fallen würden. Was danach genau passieren würde, darüber dachte man nicht groß nach. Zugegeben, das fällt noch in Zeiten, als man vollends in der Euphorie für neue Technologie schwelgte. Inzwischen hat sich vielerorts Nüchternheit breitgemacht.

Seit dem 19. Juli 2011 ist zumindest innerhalb der Europäischen Union klar, dass die Entsorgung radioaktiven Mülls keine rein nationale Angelegenheit mehr sein kann. An jenem Tag verabschiedete der EU-Rat die von der Kommission vorgeschlagenen Richtlinien zur Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle. Wesentliche Punkte der verbindlichen Regelung: Die Länder müssen bis 2015 nationale Programme mit konkreten Zeitplänen für den Bau von Endlagern, Entsorgungskonzepte sowie entsprechende Finanzierungspläne vorlegen.

Europäischer Vergleich
Seither wird in vielen EU-Ländern mehr oder weniger heftig darüber diskutiert, was zu tun sei. Die Brüsseler Richtlinie verlangt zudem, dass wir Europäer unseren Müll auf dem alten Kontinent entsorgen. Eine Verfrachtung nach Übersee wäre nur dann erlaubt, wenn dort die Bedingungen der EU gewährleistet würden – nach heutigem technischen und politischen Stand höchst unwahrscheinlich, denn Europa hat in der Auseinandersetzung mit der Atommüll-Frage weiterhin eine Pionier-Stellung inne.

In Deutschland avanciert Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) aufgrund der mühsamen Debatten um Gorleben mit zum bekanntesten Kabinettsmitglied der zweiten Regierungsmannschaft von Angela Merkel. Die Suche nach einem geeigneten Endlager-Standort läuft auf Hochtouren. In Frankreich wird geforscht, wie man das giftige Material in Glas binden könnte. Finnland baut in Eurajoki bereits an einem Lager, das 2020 fertiggestellt sein soll. Die Schweiz, ihres Zeichens kein Mitglied des europäischen Staatenbundes, debattierte auf Bundesebene gerade erst das Mitspracherecht ihrer Kantone bei der Standortbestimmung der atomaren Mülldeponien – sie wurde nicht gewährt. Grüne und Sozialdemokraten wehrten sich vergeblich gegen eine bürgerliche Allianz, die in der Thematik eine nationale Angelegenheit sieht. Somit dürften die Bewohner des Ortes, an dem das Endlager entstehen wird, wohl kaum eine Chance haben, sich effizient dagegen zu wehren. Die Österreicher brauchen sich wiederum keine allzu großen Sorgen zu machen – der Alpenstaat verfügt über keine eigenen Atomkraftwerke und wird somit auch nicht verpflichtet sein, ein Endlager einzurichten. Dafür blickt man umso besorgter nach Tschechien, wo unter anderem nahe der Grenze zwischen beiden Staaten ein möglicher Deponie-Standort ausfindig gemacht wurde. Die österreichische Empörung ist groß.

Tschechische Atomzukunft
Anders sehen das die Tschechen. Bekanntermaßen plant der Energiekonzern ČEZ eine Erweiterung seiner Atomkraftanlagen in Temelín. Die konservative Regierung Nečas erklärte erst in der vergangenen Woche, Hand in Hand mit der Slowakei „zu verhindern, dass die weitere Entwicklung der Atomkraft innerhalb der EU torpediert wird.“ Während also seit Fukushima sogar  Japan darüber nachdenkt, die Nutzung der Atomkraft einzudämmen oder sogar ganz aufzugeben, bastelt die Tschechische Republik munter daran, auch in Zukunft in wesentlichem Maße von Atomstrom abhängig zu sein.

In Böhmen und Mähren ist man aber selbstverständlich genauso an die Regelung aus Brüssel gebunden. Die staatliche Gesellschaft zur Atommüll-Entsorgung (SÚRAO) führt sechs Kandidaten ins Feld, wo dereinst ein Endlager eingerichtet werden könnte. Dazu gehören Standorte nahe der Ortschaften Pačejov (Kreis Pilsen), Lubenec (Pilsen/Ústí nad Labem), Budišov, Rohozná (beide Vysočina), Lodhéřov und Božejovice (beide Südböhmen). Geologisch erforscht werden Lagerbedingungen auf einem alten Militärgelände in Boletice. SÚRAO will bis 2015 zwei mögliche Standorte für eine Enddeponie aussuchen.Eine davon soll als Ersatzlager oder, wie ČEZ-Sprecherin Barbora Půlpanová das nennt, als „Back up“ dienen. Geht es nach den Vorstellungen des halbstaatlichen Energieriesen, sollen 2065 die ersten Brennstäbe unter der Erde endgelagert werden. Bis dahin müssen die Zwischenlager in Temelín und Dukovany herhalten.

Bedingungen für die Einrichtung eines Endlagers sind stabile, tiefgehende Granitformationen in erdbebensicheren Gebieten. „Es gibt hierbei keine Zweifel über die technologische Sicherheit der Endlagerung. Sie basiert auf dem Multi-Barrieren-Prinzip, der mehrfachen Abschottung des Materials“, erklärt Půlpanová. Hochradioaktives Material sollte bis zu einer Million Jahre unter Verschluss bleiben.

Ondřej Mirovský, Vorstandsmitglied und Energiepolitik-Experte der tschechischen Grünen,  bezweifelt diesen Standpunkt. „In der Theorie mag das funktionieren, in der Realität wohl kaum. Mit Blick auf zukünftige Generationen ist dieses Handeln extrem unverantwortlich“, so Mirovský gegenüber der „Prager Zeitung“.

Desinteressierte Bevölkerung
Vor allem die Kennzeichnung des radioaktiven Abfalls ist Gegenstand heftiger Diskussionen (siehe auch Interview unten). Wie können zukünftige Zivilisationen vor der Gefahr gewarnt werden? Diese Frage beschäftigt Laien, Politiker wie Experten gleichermaßen – eine eindeutige Antwort gibt es nicht. In Eurajoki wollen die Verantwortlichen den Deckel des Endlagers mit Edvard Munchs „Der Schrei“ markieren. Ob das die Neugier möglicher zukünftiger Entdecker nicht noch mehr anstachelt?

In Tschechien stößt die internationale Debatte auf relativ wenig Resonanz. Die Medien behandeln das Thema stiefmütterlich, nur wenige nehmen es kritisch unter die Lupe. Zumindest sollen einer aktuellen Umfrage zufolge rund zwei Drittel der Bevölkerung alternative Energiequellen bevorzugen. Das ist im Vergleich zu den Nachbarländern zwar nicht viel, aber hierzulande eine beachtliche Zahl. Laut Mirovský basiert das Desinteresse breiter Bevölkerungsschichten am Themenkomplex Atomenergie/Nuklearer Abfall vor allem auf der jahrzehntelangen Fehlinformation durch den Staat: „Tschernobyl wurde lange verschwiegen. Auch nach 1989 haben viele postsozialistische Länder weiter auf die Kernspaltung gesetzt. Daraus resultiert, dass sich die tschechische Gesellschaft der Probleme der Technologie und ihrer Folgen nicht wirklich bewusst ist.“

Fest steht: Mit dem nuklearen Abfall werden der Planet und seine Bewohner noch lange leben müssen. Marcos Buser, ein Schweizer Geologe, Sozialwissenschaftler und Experte für nachhaltige Abfallwirtschaft ließ sich in Bezug zur Endlager- und Markierungsproblematik in einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ wie folgt zitieren. „Es ist unsere Pflicht, aus einer miserablen Situation das Beste zu machen.“