Wo die Armut zuhause ist

Wo die Armut zuhause ist

In Tschechien leben rund 100.000 Menschen in Gemeinschaftsunterkünften. Darunter befinden sich viele Roma-Familien – ein Besuch in einer sogenannten „ubytovna“

7. 10. 2015 - Text: Jana Wagner

Wie ein gewöhnlicher, etwas heruntergekommener Plattenbau sieht die Gemeinschaftsunterkunft in der Kleinstadt Kladno von außen aus. Zwei Mädchen sitzen tuschelnd vor dem Eingang. Wer ein- und ausgeht, grüßt, man kennt sich hier.
Ganz gewöhnliche Nachbarn sind die 18 Familien und Alleinstehenden, die das Haus bewohnen aber nicht. Gleich hinter der Haustür nämlich beginnt der gemeinschaftliche Wohnbereich, die beiden Küchen, die Bäder und Toiletten werden von allen Bewohnern gemeinsam genutzt. Gelingt es, den Geruch nach Urin und den schlechten Zustand der Räumlichkeiten für einen Moment auszublenden, erinnert die Atmosphäre auf den Fluren ein wenig an eine Jugendherberge.

Marie bittet in ihr Zimmer, auch wenn sie damit gegen die Vorschriften verstößt. Besuchszeit ist von 13 bis 15 Uhr, danach ist auch nahen Verwandten der Aufenthalt in dem Gebäude nicht mehr erlaubt.

Da in Gemeinschaftsunterkünften kein regulärer Mieterschutz gilt und sich die Bewohner nach Bußgeldern und Überwachungsmaßnahmen von der von ihnen „Chefin“ genannten Vermieterin eingeschüchtert fühlen, wollen sie in diesem Artikel nicht mit richtigem Namen genannt werden. Jammern möchte Marie aber nicht. „Man muss das Beste daraus machen“, sagt die 55-Jährige. Ihr Zimmer ist ordentlich und gemütlich eingerichtet. Ihre Enkeltochter im Grundschulalter schläft während des Gesprächs auf der Couch.

Die Kleine lebt mit ihrer Mutter Erika, dem Vater und fünf Geschwistern im Zimmer nebenan. Die vielen Betten füllen den Raum fast vollkommen aus, dennoch hat nicht jedes Familienmitglied einen eigenen Schlafplatz. 14.000 Kronen (rund 520 Euro) Miete zahlt die achtköpfige Familie für den Raum – ein Preis, für den man eigentlich in jeder tschechischen Stadt eine Wohnung finden könnte.

Herberge für Saisonarbeiter
„Wir können sonst nirgendwohin gehen“, sagt die 35-jährige Erika, die bereits seit fünf Jahren in der Herberge lebt. Und obwohl selbst Romni, fügt sie hinzu: „Ich verstehe ja, wenn niemand Wohnungen an Roma vermieten möchte, so wie sich manche hier aufführen.“ Von dieser Position ist sie nicht abzubringen, auch wenn ihr Flurnachbar da anderer Meinung ist. „Ich bin tschechischer Bürger“, mischt er sich ein.

Rund 1.200 Gemeinschaftsunterkünfte, auf Tschechisch „ubytovna“ genannt, gibt es in der Republik. Ursprünglich dienten sie hauptsächlich als Wohnstätte für ausländische Saisonarbeiter. Auch in der Herberge in Kladno wohnen Menschen aus der Slowakei, Rumänien oder der Ukraine, für die die Gemeinschaftsunterkunft nur eine vorübergehende Lösung ist. 195 Kronen kostet eine Übernachtung.

Lucie aus der Slowakei zum Beispiel lebt seit vier Monaten hier und arbeitet bei einer großen Supermarkt-Kette. Sie hält das Leben in der „ubytovna“ für ganz passabel, da sie ja sowieso den ganzen Tag auf der Arbeit ist und sich die Bewohner untereinander helfen. „Manchmal kocht mein Nachbar für mich mit, ein andermal helfe ich ihm aus“, erzählt die 52-Jährige.
Seit der Wende ist allerdings die Zahl derer, die wegen Armut und Stigmatisierung dauerhaft in Gemeinschaftsunterkünften leben, ständig angestiegen. Etwa 100.000 Menschen seien es inzwischen, schätzt Jan Snopek, Analytiker der „Platforma pro sociální bydlení“ („Plattform für soziales Wohnen“). „Bei den Familien dominieren Roma, unter den Einzelpersonen ist die Zusammensetzung dagegen gemischt. Immer öfter leben in den Unterkünften jetzt auch ältere oder behinderte Menschen“, sagt er. Knapp 13.000 Bewohner werden nach Angaben des tschechischen Arbeitsamtes mit einer Wohnungszuzahlung staatlich unterstützt, darunter etwa 3.500 Kinder.

Häufig ist das weder für den Staat noch für die Mieter lohnenswert, da reguläre Wohnungen oft zumindest für Familien billiger seien. Denn in Gemeinschaftsunterkünften wird die Miete gewöhnlich pro Person gezahlt, nicht pro Zimmer oder Quadratmeter. Wenn dann für jedes Familienmitglied etwa 3.000 Kronen (110 Euro) Miete anfallen, bedeutet das für Großfamilien häufig, dass sie sich auf engstem Raum zurechtzufinden müssen, obwohl sie eigentlich staatliches Wohngeld erhalten.

Verhängnis Bürokratie
Petra Hrubá ist Sozialarbeiterin für die Nichtregierungsorganisation „Člověk v tísni“ („Mensch in Not“) in Kladno und besucht häufig verschiedene Gemeinschaftsunterkünfte, um die Bewohner bei der Arbeitssuche, behördlichen und persönlichen Angelegenheiten zu unterstützen, auch wenn die Herbergseigentümer ihren Besuch bisweilen verhindern wollen. Gründe, wieso überhaupt jemand in dieser Art Unterbringung wohnt, sieht sie verschiedene: „Die Menschen müssen mit einem Minimum an finanziellen Mitteln auskommen, die können nicht auf eine Wohnungskaution oder gar -provision sparen. Wenn sie es dann doch einmal schaffen, dann wollen die Vermieter und Immobilienbüros sie nicht, zum Beispiel weil sie Roma sind.“

Auch die Bürokratie wird Manchem zum Verhängnis. Wer einen Zuschuss für eine reguläre Wohnung beantragen möchte, muss hier auch seine offizielle Meldeadresse haben. Verweigert dies der Vermieter, bleibt nur der Antrag auf Unterstützung in der Gemeinschaftsunterkunft, für die diese Regelung nicht gilt.

Ausreichend Wohnqualität sieht Hrubá in den Unterkünften jedenfalls nicht gewährleistet. „Häufig war der Zweck des Gebäudes vorher ein anderer. Zum Beispiel dienten sie vorher als Warenlager, manchmal sind es auch nur aufeinandergestapelte Container“, sagt sie. Oft gebe es auch Probleme mit der Heizung, die nicht funktioniere oder sich im Gegenteil nicht ausschalten lasse. „Durch das Leben in den Gemeinschaftsunterkünften haben die Menschen, die sowieso schon in einer schwierigen Situation sind, noch mehr Pro-bleme“, so Hrubá. Auch für die Kinder, die dort wohnen, sieht sie die Situation kritisch.

Wut und Resignation
Erika, die sechsfache Mutter, antwortet auf die Frage, wo ihre Kinder denn Hausaufgaben machen würden, mit einem verhaltenen „Naja, hier eben“ und meint das Zimmer ihrer Mutter. Einen Schreibtisch gibt es nicht, dafür jede Menge Ablenkungsmöglichkeiten durch die anderen Familienmitglieder, Flurnachbarn oder den Fernseher.

Schlechte Wohnverhältnisse seien kein anerkannter Grund mehr, warum Kinder aus den Familien genommen werden dürften, findet Hrubá. Eine kindgerechte Wohnsituation würde aber auch nicht geschaffen. „In Kladno hat sich die Situation in den letzten Jahren zugespitzt, seit städtische Sozialwohnungen privatisiert wurden“, sagt die Sozialarbeiterin.
Von den Gemeinden betriebene Gemeinschaftsunterkünfte gibt es wenige, selten seien sie in einem guten Zustand. „Bei einigen Fällen kann man die Eigentümer durchaus als Mafiosi bezeichnen. Sie nutzen die schwierige Lebenssituation von Leuten aus, die sonst auf der Straße landen würden“, meint Snopek. Sozial-wohnungen gibt es in Tschechien nur in Ausnahmefällen. Seit letztem Jahr haben sich die Bedingungen in den Gemeinschaftsunterkünften aufgrund neuer Hygienekontrollen zumindest an einigen Orten leicht verbessert.

Marie ist Sauberkeit wichtig. Jeden Tag macht sie Ordnung im Hof, putzt die Küche, das Bad und die Toiletten der neun Familien, die in ihrem Stockwerk wohnen. 2.000 Kronen (rund 75 Euro) bekommt sie monatlich dafür. 600 davon benötigt sie für den Energieverbrauch des Computers, 200 für den Fernseher und 130 für den Kühlschrank.

Ihre finanzielle Situation könnte sich weiterhin verschlechtern. Das tschechische Arbeitsministerium hat Mitte September einen Gesetzesvorschlag zu den Herbergswohngeldern ausgearbeitet. Die Mietkosten in den Gemeinschaftsunterkünften dürfen künftig nicht mehr als 70 Prozent des Wertes betragen, den die Behörden als angemessen erachten. Bisher waren es 90 Prozent. Ziel sei es, den überteuerten Mieten entgegenzuwirken.

Die Bewohner der mittelböhmischen Gemeinschaftsunterkunft reagieren darauf mit Resignation und Wut. Ihr Ärger gilt allerdings nicht den Behörden, sondern vor allem vermeintlichen Empfängern staatlicher Unterstützung.

Beeindruckt von der Anwesenheit einer Journalistin geben sich die Freundinnen Marie und Lucie für einen Moment der Vorstellung hin, nach Deutschland auszuwandern. „Wir können nämlich richtig hart arbeiten“, sagt Marie und Lucie fügt hinzu: „Nicht so im Büro oder so, sondern richtig, mit den Händen.“