„Wir sind keine Zwillinge“

„Wir sind keine Zwillinge“

Der gemeinsame Staat ist seit 22 Jahren Geschichte. Anders als ihre Eltern brauchen junge Slowaken heute ein Wörterbuch, wenn sie im Nachbarland leben

8. 7. 2015 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Foto: ČTK/Igor Zehl

Am 1. Januar 1993 verschwand die Tschechoslowakei von der Landkarte. Aus einem Staat wurden zwei, die Teilung besiegelten die damaligen Ministerpräsidenten Václav Klaus und Vladimír Mečiar an einem heißen Sommertag im Garten der Villa Tugendhat in Brünn – ohne die Bevölkerung nach ihrem Willen zu fragen. Gut zwei Jahrzehnte später zieht es noch immer viele Slowaken nach Westen. Knapp 100.000 lebten dem Innenministerium zufolge zu Beginn des Jahres 2014 in Tschechien. Sie bilden damit eine der größten Ausländergruppen. Aber fühlen sie sich auch als Fremde im ehemals gemeinsamen Land?

Diana Lacová kommt aus Bratislava und hat gerade ihren Abschluss in Kulturmanagement an der Prager Wirtschaftsuniversität gemacht. Drei Jahre hat sie hier studiert, sich durch tschechische Lehrbücher gelesen und Hausarbeiten auf Tschechisch geschrieben. „Natürlich war ich dabei auf die Übersetzungshilfe von Google angewiesen“, sagt sie überrascht über die Frage. Nach kurzem Überlegen fügt sie aber hinzu, dass es auch für ihre Eltern nicht selbstverständlich sei, dass die Tochter beim Verfassen von tschechischen Texten ein Online-Wörterbuch braucht. Ihre Mutter hat lange in Prag gearbeitet und nutzt selbstverständlich die Landessprache, wenn sie die Tochter besuchen kommt. Dass Diana in Geschäften Slowakisch spricht, findet sie seltsam.

„Wahrscheinlich stimmt es, dass sich zwischen unseren Generationen ein Wandel vollzieht“, sagt die 24-Jährige nachdenklich und erzählt, dass sie sich immer ein bisschen komisch fühle, wenn sie ins Tschechische wechselt. Negative Reaktionen habe sie allerdings noch nie erlebt, eher im Gegenteil. „Manche Leute wiederholen slowakische Wörter, die für sie lustig klingen, das meinen sie aber im Normalfall eher nett.“ Die Absolventin hat außerdem ihre eigene Theorie über die beiden Sprachen: „Slowakisch ist weicher, weiblicher, das Tschechische eher hart und männlich. Slowakische Frauen finden das attraktiv und umgekehrt ist es genauso.“ Ob sie sich in Prag zuhause fühlt? „Ich habe meinen Bachelor-Abschluss in Brünn gemacht. In Mähren hat mich vieles mehr an meine Heimat erinnert: Wie die Leute dort reden, aber auch die Mentalität. Prag ist schon ganz anders.“

Juraj Capík, der wie Diana zum Studieren in die tschechische Hauptstadt gekommen ist, runzelt die Stirn. Er mag keine Verallgemeinerungen. „Unsere Länder stehen sich nahe. Ich habe aber manchmal das Gefühl, dass das überbewertet wird.“ Die Idee einer Bruderschaft zwischen den Nationen findet er „ein bisschen pathetisch. Wir sind keine Zwillinge.“ Ob die Teilung eine richtige Entscheidung war, ist Juraj heute egal. Damit geht es ihm wie etwa einem Drittel der Menschen hierzulande: In einer Umfrage, die das Tschechische Statistikamt vor drei Jahren durchführte, befürworteten 26 Prozent die Teilung, während 41 Prozent dagegen stimmten. Ganze 33 Prozent hatten gar keine Meinung zum Thema. Allerdings gaben rund 70 Prozent der befragten Tschechen und Slowaken damals an, dass der Verzicht auf ein Referendum nicht richtig gewesen sei.

Anders sieht das der ehemalige slowakische Außenminister Pavol Demeš, der vor zwei Jahren in einem Interview mit der Huffington Post erklärte: „Es wurde immer deutlicher, dass es sehr schwierig werden würde, das Land zusammenzuhalten. Anders als in Jugoslawien oder der Sowjetunion, wo ethnischer Hass und Erinnerungen an die Vergangenheit schmerzhaft und blutig waren, wurde in unserem Fall aber kein Tropfen Blut vergossen. Wir verspürten keinerlei Feindlichkeit oder ethnische Rivalität. Wir hatten lediglich unterschiedliche Vorstellungen von einem neuen demokratischen Staat. Von der Samtenen Revolution kamen wir zu einer samtenen Teilung.“

„Wir gehören zusammen“
Juraj meint dazu nur: „Wir sind beide in der EU und sollten uns auf die gemeinsame Gegenwart konzentrieren.“ Als Ausländer fühlt sich der 24-Jährige aus der Industriestadt Košice in Prag nicht, obwohl auch er im Alltag Slowakisch spricht. „Ich benutze zwar ab und zu tschechische Wörter, aber ich fühle keinen Druck, Tschechisch zu sprechen. Wenn ich mich anstrenge, kann ich es ganz gut, es dauert allerdings ein bisschen, weil ich zunächst alles im Kopf übersetzen muss. Eigentlich ist es einfacher für mich, auf Englisch zu kommunizieren.“

Dominika Koprdová ist zwei Jahre jünger als Juraj und sieht im Gegensatz zu ihm durchaus eine enge Verwandtschaft zwischen den beiden Ländern: „Wenn das tschechische Team Eishockey spielt, ist es normal, dass wir es anfeuern. Außerdem sind wir mit Büchern, Filmen und Musik aus Tschechien aufgewachsen.“ Für Dominika war der Umzug nach Prag ein „logischer“ Schritt, als sie vor zwei Monaten von einer Weltreise zurückkehrte. „Die meisten meiner Freunde waren ohnehin schon hier. Es gibt einfach mehr Möglichkeiten, und das in allen Bereichen. Was Universitäten angeht, Jobs, oder kulturelle Veranstaltungen. Prag ist eine sehr lebenswerte Stadt.“ Diesen Unterschied zu ihrer Heimat sieht sie in der gemeinsamen Vergangenheit begründet: „In der Tschechoslowakei war Prag das Zentrum des Geschehens. Bratislava hinkte immer hinterher. Noch immer ist unsere Hauptstadt weniger entwickelt.“ Die 22-Jährige war bei der Teilung zwar noch nicht geboren, eine Meinung hat sie trotzdem: „Die Trennung verlief auf politischer Ebene problemlos, emotional war es schon schwieriger. Danach wurde die Slowakei auf einmal als rückständig und unterentwickelt betrachtet, als schwarzes Loch im Herzen Europas. Jetzt holen wir aber auf, denke ich.“

Irgendwie gehören Tschechen und Slowaken noch immer zusammen, lassen sich die Aussagen der drei jungen Wahlprager zusammenfassen. Was die Teilung in Tschechien bewirkt hat, erklärte der ehemalige tschechische Botschafter in London Pavel Seifter im vergangenen Jahr in einem Kommentar für die Zeitung „The Guardian“: „Eines der Ergebnisse ist die Zunahme von Nationalismus, Populismus und Fremdenfeindlichkeit in einer tschechischen Nation, die ihr Schicksal nicht länger mit ihren historischen Partnern und Minderheiten teilt – den Slowaken, Deutschen, Juden, Polen und Ungarn.“ Geteilt wird vielleicht nicht das Schicksal, aber was die beiden Nachbarländer betrifft, zumindest nach wie vor oft der Hörsaal oder das Büro.