„Wir müssen darüber sprechen“

„Wir müssen darüber sprechen“

Mit der Aktion „Smíření/Versöhnung“ laden junge Tschechen vertriebene Deutsche nach Prag ein – und bringen Zeitzeugen von beiden Seiten der Grenze zusammen

27. 9. 2016 - Text: Stefan WelzelText: Stefan Welzel; Foto: Antikomplex

Das Video mit der Botschaft von Jan Čižinský dauert nur rund eine Minute. Der Bürgermeister des siebten Prager Bezirks schildert darin seine Gedanken über die Vertreibung der Sudeten­deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Der 38-Jährige steht sinnbildlich für das Interesse jüngerer Tschechen an dem Thema: Selbst nicht davon betroffen, und doch engagiert für die Aufarbeitung der Geschichte. Deshalb hat Čižinský auch den kurzen Film drehen lassen und mitgeholfen, Räume für die Aktion „Smíření/Versöhnung“ zu finden, zu der junge Tschechen in Zusammenarbeit mit der Organisation „Antikomplex“ und der Ackermann-Gemeinde einladen.

Am 5. November werden mehrere Zeitzeugen aus Deutschland und Tschechien in die Kirche des Heiligen Antonius am Prager Strossmayer-Platz kommen, um ein Werk der Komponistin Eliška Cílková zu hören. Außerdem wird die Ausstellung „Unter einem Dach“ eröffnet. Sie präsentiert insgesamt sieben Zeitzeugenpaare aus beiden Ländern und deren Geschichten.

Die Initiatoren sammeln für ihr Projekt derzeit Spenden im Internet. Geld geben, um Vertriebene einzuladen – ist die tschechische Öffentlichkeit schon dazu bereit? Immerhin läuft in den Regionen gerade der Wahlkampf und dort sind die Sudetendeutschen immer wieder ein Thema, um Stimmen zu fangen. Miloš Zeman hatte bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2013 die vielleicht entscheidenden Prozentpunkte geholt, indem er Konkurrent Karel Schwarzenberg eine prodeutsche Haltung in Bezug auf die Beneš-Dekrete vorwarf.

Unter einem Dach
Doch längst nicht alle Tschechen sehen in der Vertreibung heute eine gerechte Strafe für die Verbrechen der Nationalsozialisten. „Die Vertreibung ist etwas, über das wir einfach sprechen müssen“, erklärt etwa die Brünner Schriftstellerin Kateřina Tučková auf der Facebook-Seite von „Smíření/Versöhnung“. Die 36-Jährige hat das Thema in ihrem Roman „Vyhnání Gerty Schnirch“ (Die Vertreibung der Gerta Schnirch) behandelt. Das Buch wurde inzwischen mehrfach ausgezeichnet und für die Bühne adaptiert.

Wie Tučková gehört auch Vlaďka Vojtíšková zu der Generation von Tschechen, die unverkrampft an das Thema herangehen. Sie ist Ideengeberin von „Smíření/Versöhnung“ und kritisierte in einem Gespräch mit „Radio Prag“, dass die Vertreibung „hierzulande immer noch ein wenig ein Tabu ist“.

Das große Interesse vor allem junger Tschechen bestätigt auch Maja Konstantinović von „Antikomplex“. Die 27-jährige Deutsche lebt seit einem Jahr in Prag und arbeitet als Projekt­koordinatorin für die gemeinnützige Organisation, die es sich auf die Fahnen geschrieben hat, die Vertreibung aufzuarbeiten. „Viele junge Leute interessieren sich für die Geschichte der Vertreibung genau deshalb, weil sie eher wenig darüber gelernt haben“, so Konstantinović.

Zeitzeugen für die Ausstellung „Unter einem Dach“ fanden die Organisatoren auf unterschiedlichen Wegen. Manche Kontakte existieren schon länger, andere kamen über die Ackermann-Gemeinde oder die Internetauftritte von „Antikomplex“ zustande. In einem Fall waren Großeltern einer Mitarbeiterin gleichzeitig Betroffene. Für das Projekt fuhren Konstantinović und ihre Mitstreiter nach Deutschland, um die Menschen zu porträtieren.

Diskussionen erwünscht
Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus. „Manche können gut mit dem Geschehenen umgehen und erzählen ihre bewegenden Geschichten freimütig. Andere konnten nicht so recht verstehen, warum wir uns überhaupt für sie interessieren“, erinnert sich Konstantinović. „Und viele waren einfach dankbar, überhaupt erzählen zu können.“ Die Macher von „Smíření/Versöhnung“ wollten vor allem erfahren, welche Beziehung die Menschen zu den Tschechen heute haben. Bei den meisten sei erfreulicherweise festzustellen, dass die schmerzliche Erfahrung verarbeitet ist und neue Freundschaften jenseits der Grenzen geschlossen wurden, so Konstantinović.

Oft seien Deutsche einfach in die alte Heimat gefahren und haben an den Türen ihrer ehemaligen Häuser und Wohnungen geklopft. „Daraus entwickelten sich unter anderem die Bekanntschaften, die wir nun in Prag vorstellen“, erklärt Konstantinović. Zur Vernissage sind die sieben Zeitzeugenpaare eingeladen. Einige Tage zuvor findet im Programmkino Bio Oko eine Podiums­diskussion mit Historikern statt. Die Schau ist als Wanderausstellung konzipiert, weitere Porträts von Zeitzeugenpaaren werden zu einem späteren Zeitpunkt online gestellt. „Weil wir noch viel mehr interessante Geschichten recherchiert haben, die es wert sind, gezeigt zu werden“, ergänzt Konstantinović.

Negative Reaktionen zum neuesten Projekt hat „Anti­komplex“ bisher nicht zu vermelden. Kritische Stimmen erwarte man allerdings bei den Veranstaltungen. Diskussionen anregen, das Thema aktiv angehen und die Geschichte analysieren sind letztlich die Anliegen, die die Organisatoren verfolgen. Und deshalb werde „Antikomplex“ die Arbeit auch in Zukunft nicht ausgehen. „Da sehe ich noch vieles im Argen. Obwohl die Grenzen offen sind, gibt es doch relativ wenig zwischenmenschliche Kontakte.“

Nähere Informationen unter www.facebook.com/smireni2016