Wie Löwenzahn im Beton

Wie Löwenzahn  im Beton

Das Berg-Orchester hat sich der modernen Klassik verschrieben – einer Musik, die es in Prag nicht leicht hat

14. 3. 2013 - Text: Stefan WelzelText: Stefan Welzel; Foto: Pavel Hejný

Der Winter möchte sich noch einmal in Erinnerung rufen. Eisig bläst er durch die Unterführung der U-Bahn-Station Ladví im Prager Norden. Das Grau des Himmels verschmilzt mit dem der Hochhäuser. In dieser farblosen Umgebung steht eine Schule, die sich den schönen Künsten verschrieben hat. Versteckt zwischen 15-geschossigen Plattenbauten und Parkplätzen liegt die Kunst- und Musikschule ZUŠ (Základní umělecké školy). Hier üben die Mitglieder des Prager Berg-Orchesters für ihre Konzerte. Wie der Löwenzahn sich durch den Beton beißt, treibt diese Musik ihre Blüten in der einheitsgrauen Umgebung. Dies könnte als Metapher für ein Ensemble dienen, dass sich seit nunmehr über 17 Jahren der modernen Klassik verschreibt, in einer Stadt, in der die klassische Musiklandschaft von Komponisten wie Antonín Dvořák oder Bedřich Smetana dominiert wird – Marken aus der Zeit der nationalen Wiedergeburt. Das Orchester arbeitet stets mit dem Ziel, mit Innovation und Kreativität eine Musik bekannt zu machen, die es hierzulande nicht immer leicht hat.

1995 gründete der Slowake Peter Vrábel ein Projekt, dass darauf zielte, vor allem Werke von Komponisten des 20. Jahrhunderts sowie der Gegenwart zu spielen. Vrábel, damals selbst noch Musikstudent, dachte nur daran, einzelne Konzerte auf die Beine zu stellen. Von einem Orchester war zunächst nicht die Rede. Nun sitzt der Dirigent entspannt in der Musikschule bei Ladví. Mit einem Lächeln auf den Lippen erinnert er sich, wie er und befreundete Kommilitonen über den Namen des Ensembles nachdachten. „Wir wollten einfach etwas anderes als die typischen Bezeichnungen wie ,Kammerorchester XY’ verwenden. Natürlich ist der Bezug zum Komponisten Alban Berg offensichtlich, obwohl wir den vollen Namen aus rechtlichen Gründen nicht verwenden durften.“ Berg war ein Vertreter der sogenannten „Zweiten Wiener Schule“. Mit ihr entstand eine neue klassische musikalische Formsprache, die Zwölftontechnik.

Der Bruch mit traditionellen Vorstellungen von Tonfolgen war heftig, nicht überall stieß die „neue Musik“ auf Gegenliebe. Nicht wenige halten sie für zu sperrig, zu kompliziert. Mit dieser Interpretation können Vrábel sowie Orchester-Managerin Eva Kesslová naturgemäß nichts anfangen. „Wenn man etwas oft hört, lernt man es verstehen und vielleicht auch mögen. Je mehr man moderne Klassik hört, desto eher findet man Zugang zu ihr“, sagt Kesslová, die das Geigenspiel einst für ein Kulturmanagement-Studium aufgab.

Auf dem Programm des Orchesters stehen prominente Werke von Heiner Goebbels oder Dimitri Schostakowitsch genauso wie solche unbekannter Komponisten. Gerade beim Spielen von etwas experimentelleren Stücken kommt der etwas gewöhnungsbedürftige Charakter der modernen Klassik zum Vorschein. Die eher unmelodiösen Klangfolgen sind in der Tat nicht jedermanns Sache, gleichen sie zuweilen doch einem chaotischen Wirrwarr der verschiedenen Instrumente, wie sie ein jedes klassische Orchester in seinen geordneten Reihen weiß.

Gerade in einer der Hochburgen der klassischen Musik in Europa hat es das Orchester schwer, sich bei einem breiten Publikum bemerkbar zu machen. In Prag wimmelt es von Ensembles, die ihr Geld mit Klassik aus der Zeit zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert verdienen. Auch im Programm der etablierten Institutionen wie der Tschechischen Philharmonie oder den Prager Symphonikern geben meist Werke von Dvořák oder Smetana den Ton an. Die moderne Klassik der letzten rund hundert Jahre ist auf den großen Bühnen der Hauptstadt nur selten zu hören. Schon wenn Leoš Janáček oder Bohuslav Martinů, die weniger experimentellen Vertreter der modernen Klassik, gespielt werden, verlieren sich deutlich weniger Zuhörer im Rudolfinum oder dem Konzertsaal des Gemeindehauses am Platz der Republik. Inzwischen sind die Konzerte des Berg-Orchesters gut besucht. „Die Resonanz wird von Jahr zu Jahr besser. Auch die Altersstruktur ist gut. Es gibt zum Beispiel sehr viele alte Leute, die vom Virus der neuen Musik infiziert sind“, sagt Vrábel.

Effekt der Visualisierung
Dass sich das Orchester eines treuen und sich stetig erweiternden Publikums erfreuen kann, hat auch mit dem Konzept zu tun. „Interdisziplinarität“ könnte das Schlagwort sein. Die Auftritte des Berg-Orchesters sind nicht an traditionelle Bühnenabläufe gebunden – weder musikalisch noch performativ. Zuletzt arbeitete man unter anderem mit dem Tanzkollektiv „People 420“ und dem Tonkünstler Jan Trojan zusammen. Dabei verflechten die Protagonisten moderne Klassik mit visuellen Effekten. Mal sind es Schauspieleinlagen, mal Video-Installationen, die das Spiel des Orchesters ergänzen. „Das ist nicht nur aus künstlerischer Sicht spannend für den Zuschauer, sondern macht auch unglaublich Spaß“, erläutert der 43-jährige Vrábel. Die Auftritte des Orchesters fordern die auf Normativität getrimmten Sinne des Rezipienten heraus. Wollte man mit moderner Klassik bisher vor allem althergebrachte Hörgewohnheiten durchbrechen, sprechen Vrábel und seine Mitstreiter nun auch den Sehsinn an.

Gewöhnlich spielt das Orchester in kleineren bis mittelgroßen Veranstaltungsorten, so zum Beispiel im Kulturzentrum DOX, in der Spanischen Synagoge oder dem Tschechischen Musik­museum. Acht Mal im Jahr organisiert das Berg-Orchester eigene Konzerte, ansonsten werden sie von anderen Institutionen gebucht. „Das Budget liegt bei 3,5 Millionen Kronen. Ein sehr geringer Betrag. Wir sind eine Non-Profit-Organisation“, erklärt Kesslová die finanziellen Rahmenbedingungen. Ein aus professionellen Musikern bestehendes Orchester arbeitet in Tschechien gewöhnlich mit dem Zehnfachen dieser Summe. Diese sind dann aber oft dauerhaft subventioniert, was beim Berg-Orchester nicht der Fall ist. „Wir müssen für jedes einzelne Projekt neu Gelder beantragen“, so Kesslová. Das Ensemble lebt vor allem von seinem guten Ruf und nicht wenige Mitglieder benutzen es als Sprungbrett, um danach in größeren Orchestern ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Denn im Berg-Orchester ist das nicht möglich.

Entspannt und konzentriert
Bei den Proben am Montagmorgen spürt man Kreativität und Tatendrang. Der Umgang untereinander und gegenüber dem Chef ist entspannt. Techniken werden ausprobiert, Improvisationen angestimmt und Scherze gemacht. Und trotzdem wirkt das Ganze hochkonzentriert. Dabei überkommt den Beobachter schnell das Gefühl, Dirigent Vrábel sei einfach einer von ihnen, seinen Schützlingen. Einer, der sich nach getaner Arbeit auch nicht scheut, die Stuhlordnung für den Unterricht der Kinder persönlich wieder herzurichten. Gerade laufen die Vorbereitungen für das Saison-Eröffnungskonzert. Dabei wird der Sieger des Hörer-Wettbewerbs „Nuberg“ vorgestellt. Interessierte können sich über die Webseite des Orchesters Beiträge junger Kompositionstalente anhören, die das Berg-Orchester 2012 gespielt hat. Wer am besten bewertet wird, kommt in den Genuss, Anfang März noch einmal vorgestellt zu werden. Dies ist nicht selbstverständlich, denn das Prinzip ist es  – zumindest bei den selbstorganisierten Konzerten – selten bis nie ein Werk zu wiederholen.

Auch das gehört zum kompromisslosen Konzept Vrábels. Zwecks Traditionsbruch wollte er mal den Zuschauer­applaus am Ende eines Auftritts umgehen. „Damit lösen wir das übliche Verständnis von offiziellem Beginn und einem klaren Schluss auf“, sagt er. Diese Idee fand Managerin Kesslová weniger gut. „Man kann den Zuschauern doch nicht verbieten, ihrer Zustimmung Ausdruck zu verleihen. Das war eine blöde Idee, Peter“, schallt es lachend aus ihr heraus. Sie weiß nur allzu gut, wie wichtig die öffentliche Meinung für ihr Orchester ist. Denn will man die traditionsverbundenen Tschechen weiterhin für die moderne Klassik begeistern, braucht es positive Publizität und Rezension.

Mehr Infos und Programm des Orchesters unter www.berg.cz