Wie ein schlafender Drache

Wie ein schlafender Drache

In Tschechien bekommen seelisch Kranke oft nicht die Hilfe, die sie brauchen. Eine Reform der Psychiatrie soll das in den kommenden Jahren ändern

3. 11. 2016 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Fotos: APZ, privat, K. Wiegmann

Jeník Tyl erscheint pünktlich zum Interview im Prager Café Louvre. Er kommt direkt von seinem Nebenjob in einem anderen Café, trägt Turnschuhe und große Kopfhörer, hat ein gewinnendes, offenes Lächeln. Ein ganz normaler tschechischer Mittzwanziger. Ganz normal? „Ein bisschen hasse ich das Wort“, lacht er. Tyl war schon mehrfach in geschlossenen Anstalten untergebracht. Er litt an Paranoia, war zeitweise wie auf Drogen, hatte monatelange manische Phasen und fühlte sich, als könnte er durch Zeit und Raum reisen. Ärzte diagnostizierten eine bipolare Störung.

Mit einer solchen Krankheit ist Tyl nicht allein. Gesprochen wird darüber hierzulande allerdings wenig. Tyl möchte dabei helfen, das zu ändern. Er ist das Gesicht der Kampagne „Mindset“, die mit kurzen Videoclips Vorurteile gegenüber seelisch kranken Menschen bekämpft. Die Aktion begleitet eine Reform der Psychiatrie, die in Tschechien seit 2013 geplant wird. Sie soll dazu führen, dass sich der Umgang mit psychisch Kranken grundlegend ändert.    

Petr Winkler begleitet die Reform von Anfang an. Er leitet die Abteilung für Soziale Psychiatrie am Nationalen Institut für seelische Gesundheit (Národní ústav duševního zdraví, NÚDZ), das sich in Klecany befindet, wenige Kilometer nördlich von Prag. Winkler hat am Strategiepapier für die Reform mitgearbeitet. „Unser System verlässt sich vor allem auf die großen psychia­trischen Kliniken. Es sollte aber eine Pflegepyramide geben: Selbsthilfe und Unterstützung innerhalb der Familie gefolgt von ambulanten Hilfsangeboten in der eigenen Umgebung, danach psychiatrische Abteilungen in normalen Kranken­häusern und erst ganz an der Spitze der Pyramide sollten psychiatrische Kliniken stehen.“ Der Unter­bau fehle in Tschechien. „Die Menschen landen meist direkt in den Einrichtungen.“

So war es auch bei Tyl. Das erste Mal war er vor sechs Jahren in Bohnice, der größten psychiatrischen Anstalt des Landes. Seine Mutter brachte ihn dorthin, als er eines Morgens auf einmal ein anderer war. Er erinnert sich noch gut an die Nacht, die für ihn alles veränderte. „Ich stand an einer Kreuzung. Ein Teil von mir sagte: Jeník, alles ist in Ordnung, schlaf weiter. Eine andere Stimme kämpfte dagegen an: Schau dich doch an, du bist verrückt. Es war ein Kampf zwischen meinem Verstand und meinem Wahnsinn.“

Jeník Tyl hat ein gewinnendes Lächeln und eine bipolare Störung

Der Wahnsinn gewann. Er wachte als Kind auf, das Angst vor allem und jedem hatte, er stotterte auf einmal und brachte keinen normalen Satz mehr heraus. Damals blieb er eine Woche in Bohnice. Ob es schon eine Dia­gnose gab, daran kann er sich nicht erinnern. Danach schien aber zunächst alles in Ordnung zu sein. Bis nach zehn Monaten die nächste Attacke kam. Inzwischen hat er vier Klinikaufenthalte hinter sich.

Skandalöse Zustände
Tyl erzählt, dass sein Umfeld für ihn da ist. Mal waren es die Familie oder Freunde, die ihn in die Klinik brachten, ein anderes Mal bat er sogar seinen Chef im Café darum. Er spürte selbst, dass es wieder an der Zeit war. Andere haben nicht so viel Glück und sind mit ihrer Krankheit allein. Gerade für sie sollen mit der Reform Angebote geschaffen werden. „Menschen, die aus psychiatrischen Anstalten entlassen werden, haben oft niemanden, an den sie sich wenden können“, so Winkler. Da sie draußen keine Hilfe bekämen, würden manche gar nicht erst entlassen. „Es gibt in diesem Land Menschen, die seit 20 Jahren in geschlossenen Anstalten behandelt werden.“ Die Wissenschaft würde nach aktu­ellem Stand keinerlei Beweise dafür liefern, dass das sinnvoll sei.

Wie sind die Zustände in den geschlossenen Anstalten hierzulande? Im Jahr 2004 wurden Tschechiens Psychiatrien kritisiert, nachdem die britische Zeitung „The Sunday Times“ darüber berichtet hatte, dass Patienten in Gitterbetten festgehalten und ruhiggestellt würden. Sogar Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling schloss sich dem Protest öffentlichkeitswirksam an. Acht Jahre später schrieb das „European Network of (ex)Users and Survivors of Psychiatry“, ein Selbsthilfenetzwerk ehemaliger Patienten in geschlossenen Anstalten, einen offenen Brief an den damaligen tschechischen Gesundheitsminister Leoš Heger, nachdem der Selbstmord einer 51-jährigen Frau bekannt geworden war. Sie war in Dobřany bei Pilsen in stationärer Behandlung gewesen und ebenfalls in einem Gitterbett fixiert.

„Die Dinge ändern sich, aber sie ändern sich langsam“, kommentiert Peter Winkler vom NÚDZ. Er findet die Ausstattung vieler Einrichtungen skandalös. „Wir gehören zu den Ländern mit höheren Einkommen. In normalen Krankenhäusern sieht man modernste technische Geräte, manchmal sogar auf einem höheren Niveau als in westlichen Ländern. Geht man in eine psychiatrische Klinik, erinnern die Zustände eher an den Balkan.“ Er gibt aber auch zu bedenken: „Viele dieser Institutionen gibt es seit 150 Jahren. Die Gesellschaft war damals eine andere. Früher waren auch keine Psycho­pharmaka verfügbar, die Behandlung gestaltete sich also komplett anders.“

Heute seien manche Einrichtungen in Ordnung, so Winkler. „In andere wurde seit ihrer Gründung praktisch nicht mehr investiert.“ Mancherorts müssten sich zehn oder mehr Patien­ten mit unterschiedlichen Krankheitsbildern ein Zimmer teilen. „Für den Heilungsprozess ist das nicht hilfreich“, sagt der Wissenschaftler.

In Prag-Bohnice befindet sich die landesweit größte Anstalt für psychisch Erkrankte.

Auch Tyl musste sich das Zimmer mit anderen teilen. In den Nachbarbetten lagen Drogenabhängige und Obdachlose. Am härtesten sei es im „Pavillon 27“ gewesen. Er spricht davon, als würde er voraussetzen, dass man diesen Ort kenne, als sei es ein stehender Begriff für etwas sehr Unheimliches. „Die gefährlichsten und aggressivsten Patienten sind dort untergebracht.“ Sicher habe er sich dort nicht gefühlt. Er konnte nicht mal richtig sehen, seine Brille sei ihm abgenommen worden, der Gläser wegen: Selbstmordgefahr.

Spirituelle Dimension
Erst nach ein paar Wochen durfte Tyl für ein paar Minuten täglich in den Park, um frische Luft zu schnappen. Aber Selbstmitleid hat er nicht. Er will sich nicht als Opfer stilisieren. Seine Krankheit und die damit verbundenen Erfahrungen hat er sich souverän zu eigen gemacht. „Ich weiß nicht, ob das für alle gilt, aber für mich kann ich sagen, dass die Zeit in Bohnice Teil meiner Behandlung war. Ich war in der geschlossenen Anstalt auf mich gestellt und musste der Situation ins Auge blicken.“

Heute nimmt Tyl Lithium und Antipsychotika in geringen Dosen, obwohl ihm nicht gefällt, dass sich in der westlichen Medizin alles um die richtige Medikaktion dreht. „Die Ärzte hier denken an chemische Prozesse und Neuronen. Für mich hat das aber auch eine spirituelle Dimension. In Südamerika gibt es Schamanen, die vielleicht an ähnlichen Anfällen leiden wie ich. Dort werden sie als jemand betrachtet, der mit den Göttern sprechen kann. In diesen Gesellschaften funktioniert das.“ Er würde sich ganzheitliche Lösungen wünschen – ebenso wie Petr Winkler.

Dem Wissenschaftler zufolge kommen hierzulande auf 100.000 Einwohner 13,5 Psychiater. Das sei im europäischen Durchschnitt zwar nicht schlecht, den Ärzten stünden aber oft nur wenige Minuten im Monat pro Patient zur Verfügung. Sie müssten oft auch die Arbeit von Krankenschwestern und Bürokräften übernehmen; die Zeit mit den Patienten reiche dann eben nur für das Verschreiben von Medikamenten.

Mit der Reform sollen deshalb im ganzen Land kleinere Institutionen entstehen, die an der Schnittstelle von Medizin und Sozialarbeit agieren. Sie würden Patienten ambulant behandeln und direkt in ihrem Umfeld unterstützen – zum Beispiel am Arbeitsplatz oder im Umgang mit Behörden. Laut Winkler sollen diese Zentren in den nächsten fünf Jahren eingerichtet werden.

Nationales Institut für seelische Gesundheit nördlich von Prag

Hohe Kosten
Die Kosten sind hoch, da zunächst das alte System ebenso finanziert werden muss wie die neuen Strukturen und die begleitenden Kampagnen. „Die Transformationsphase wird vor allem aus den EU-Struktur­fonds finanziert, die vom Ministerium für Arbeit und Soziales verwaltet werden“, gibt Winkler Auskunft. „Die Beträge sind schon hilfreich, werden aber nicht ausreichen, um ein langfristig effektives und zufriedenstellendes System zur Behandlung psychischer Erkrankungen zu schaffen.

Dafür müsste ein wesentlich höherer Betrag aus dem Budget des Gesundheitsministeriums zur Verfügung stehen.“ Nur rund drei Prozent des Gesamt­budgets für das Gesundheitssystem würden derzeit auf den Bereich psychischer Erkrankungen entfallen. „In ost­europäischen Ländern liegt der Durchschnitt bei fünf bis sechs Prozent, in Westeuropa sogar bei sieben bis acht.“

Auf die Frage, ob er die Hilfe bekommen habe, die er brauchte, antwortet Tyl mit einem klaren „Nein“, obwohl es ihm heute ganz gut geht, wie er selbst sagt. Er hat sein Studium an der Theater­akademie DAMU abgeschlossen, arbeitet als Produzent für Prager Ensembles und wird bald seine Freundin heiraten. Aber seine Krankheit schlafe wie ein Drache in ihm, sagt er, und dass er nicht wissen könne, wann der Drache aufwache und raus wolle.

Was eine bipolare Störung, eine Depression oder Schizophrenie von einem gebrochenen Bein unterscheidet? „Ein gebrochenes Bein kann man auf Röntgenbildern leicht erkennen“, sagt der Wissenschaftler. „Wenn der Patient nach der Behandlung wieder kommt, kann der Arzt klar sagen, ob alles gut gelaufen ist und ob die betroffene Person normal weiterleben kann. Das Gehirn können wir noch nicht scannen, um zu sehen, ob jemand eine Depression hat.“ Es komme auf die Beurteilungen der behandelnden Fachleute an. Wichtig sei aber auch die soziale Dimension. „Eine Depression betrifft nicht nur das Gehirn, es geht auch um das Funktionieren innerhalb einer Gesellschaft oder der Familie“.
Tyls Antwort ist ein bissschen kürzer: „Es gibt keinen Unterschied zwischen einem gebrochenen Knochen und einer psychischen Erkrankung. Beides muss heilen.“