Von Tigern und Träumen

Von Tigern und Träumen

„Teorie Tygra“ ist eine dramatische Komödie voller Klischees – und berührt die Zuschauer trotzdem

13. 4. 2016 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Fotos: Logline

Die Wolken über Prag haben sich gerade für einen Moment verzogen. Die Sonne bricht noch ein letztes Mal durch und wirft ein dramatisches Licht auf die Stadt. Es ist einer der ersten warmen Abende. Neuanfang und Verheißung liegen in der Luft. Drei verheiratete Männer mittleren Alters stehen vor dem Kino und schauen in den Himmel, einen verträumten, sehnsuchtsvollen Glanz in den Augen. Sie haben gerade „Teorie Tygra“ („Die Theorie des Tigers“) gesehen. Das Spielfilm-Debüt des tschechischen Regisseurs Radek Bajgar feierte in der vorvergangenen Woche Premiere.

Der Fernsehstar Jiří Bartoška, Jahrgang 1947, spielt darin den Tierarzt Jan, dem es kurz vor dem Rentenalter reicht. Seine Frau ist Professorin an der Universität und hat nicht nur für ihre Vorlesungen sondern auch für sein Leben einen genauen Plan. Was er isst, wie viel er trinkt, wie er seine Freizeit gestaltet – Olga ist bestrebt, Risiken für ihn zu mini­mieren.

Gelernt hat sie das von ihrer Mutter, die zuhause ebenfalls ein strenges Regiment führte – bis über den Tod ihres Mannes hinaus. Ausdrücklich hatte ihr Gatte sich eine Feuerbestattung gewünscht. Seine Asche sollte über die Moldau und Elbe bis ins ferne Hamburg gelangen. Mit dem Hausboot dorthin zu fahren, war immer sein großer Traum gewesen. Doch die Matri­archin hatte andere Pläne. Und das gilt auch für die Beerdigung. Die letzte Ruhestätte ihres Angetrauten wird das Familiengrab, damit sie ihn besuchen und eines Tages neben ihm bestattet werden kann. „Vielleicht wollte er ja genau das nicht“, stichelt Schwiegersohn Jan, und realisiert gleichzeitig, dass ihm ein ähnliches Schicksal blüht. Er sieht sich als kastrierten Tiger, von seiner Frau gezähmt und eingesperrt. Und er will raus aus seinem Käfig.

Im Film geben die Frauen den Ton an – zur Not auch ohne Worte.

Der Tierarzt spielt wörtlich verrückt, bis er sein Ziel erreicht: Während Olga ihren Mann in sicherer Verwahrung und ärztlicher Obhut wähnt, verwirklicht Jan seinen Traum vom ziellosen Wandern durch die Natur mit gelegentlichem Zigaretten-, Wurst- und Weingenuss. Seine strenge Gattin erhält derweil Unterstützung von Tochter Oli, die ihren Mann im Sinne der Familien­tradition bis dahin ebenfalls voll unter Kontrolle hat. Aber auch er hat im Film seinen rebellischen Moment und solidarisiert sich mit dem Schwiegervater, genau wie dessen Sohn, der zwar eine liberalere Partnerin gefunden, es aber trotzdem nicht immer einfach hat.

Mit dieser Handlung könnte „Teorie Tygra“ ein furchtbar flacher Film sein. Dass er das nicht ist, verdankt er dem vielschichtigen – und liebevollen – Entwurf der Charaktere. Es geht Bajgar offensichtlich nicht darum, ledig­lich Geschlechterklischees für ein Massenpublikum zu reproduzieren. Er erzählt vielmehr eine Geschichte von unerfüllten Träumen, der Sehnsucht nach Natur, vom Ausbrechen aus der Routine im wohlgeordneten Eigenheim, von der Freiheit, sich und andere noch überraschen zu können.

Dass es in „Teorie Tygra“ die Frauen sind, die sich den Männern mit den allerbesten Absichten in den Weg stellen, begreift das Publikum eher als Familienmarotte denn als fundamental chauvinistisches Wehklagen. Zudem lässt das Drehbuch den weiblichen Charakteren ebenfalls Raum für Entwicklung. Und so sind es nicht nur die Männer im Publikum, die sich am Ende des Films auf ein Boot und eine Reise ins Unbekannte wünschen.