Vom Feldversuch zum modernen Medium

Vom Feldversuch zum modernen Medium

Der Tschechische Rundfunk wird 90. Im Mai 1923 knackte es zum ersten Mal im Äther

15. 5. 2013 - Text: Till JanzerText: Till Janzer; Foto: Archiv ČRo

Es regnete in Strömen an diesem Samstagabend. Am Zelt der tschechoslowakischen Armee rüttelte der Wind. Helfer mussten die Planen festhalten, während nach einer kurzen Programmankündigung die Operndiva Růžena Topinková sang. Das alles spielte sich auf einem Acker nahe dem Militärflugplatz Kbely im gleichnamigen Prager Außenbezirk ab – der Sendebeginn als Feldversuch. Im Theater Sanssouci im Prager Zentrum hörten viele Neugierige die Übertragung. Glaubt man den Berichten der Zeitgenossen, dann war die Tonqualität kläglich. Es knackte und knisterte derart aus den Lautsprechern im Theater, als käme die Übertragung aus dem All und nicht vom Stadtrand. Der erste Rundfunkdirektor Miloš Čtrnactý wollte danach den ersten Sendetag am 18. Mai 1923 lieber vergessen. Es dürfte ganz in seinem Sinn gewesen sein, dass in den Anfangsjahren die Sendungen noch nicht fürs Archiv aufgezeichnet wurden.

Was geschah, war indes historisch: Die Tschechoslowakei war das zweite europäische Land nach Großbritannien mit regelmäßigen Radiosendungen. Die damalige Sendestation nannte sich Radiojournal, 1933 bezog sie das heutige funktionalistische Gebäude in der Vinohradská-Straße oberhalb des Nationalmuseums in Prag. Später wurde der Tschechoslowakische Rundfunk daraus, und 1993 der Tschechische Rundfunk (ČRo). Seit drei Jahren ist Peter Duhan Generaldirektor der Medienanstalt. „Es ist faszinierend zu verfolgen, wie sich der Rundfunk im Laufe der Zeit gewandelt hat, von einer Sendestation mit einem sehr beschränkten Sendeumfang zur heutigen modernen öffentlich-rechtlichen Institution.“

Der Weg dahin war zunächst steil, teilweise auch dramatisch. Die dreißiger Jahre waren die goldene Zeit des Rundfunks, damals wurde auch mit den Auslandssendungen (unter anderem auf Deutsch) begonnen. Mehrmals stand der Rundfunk im Zentrum des historischen Geschehens. Am 5. Mai 1945 brach hier der Prager Aufstand gegen die deutschen Besatzer aus, und am 21. August 1968 umstellten die Truppen des Warschauer Pakts das Gebäude. Insgesamt sechs Jahre lang bestimmten die Nazis, was gesendet wurde, und jahrzehntelang nutzten die Kommunisten die Programme als Hauptpropaganda-Medium. Die politische Wende befreite die Redakteure und Mitarbeiter dann zwar von der Zensur, doch nun gab es erstmals Konkurrenz im Äther: durch die Privaten.

Vertontes Gedächtnis
Selbst das Flaggschiff, der Nachrichtensender „Radiožurnal“, kam ins Schlingern. Seinen Rang als meistgehörter Sender hat es mittlerweile den kommerziellen Stationen überlassen müssen. Mit über einer Million Hörern am Tag führte zuletzt Radio Impuls, erst an vierter Stelle kam das Radiožurnal mit etwa 750.000 Hörern (Zahlen für das zweite Halbjahr 2012). Generaldirektor Duhan will das erste Programm des Rundfunks nun wieder attraktiver machen, beispielsweise mit einer breiteren Musikauswahl. Außerdem soll dem ČRo mit einem schlankeren Programmangebot mehr Struktur verliehen werden. Deswegen wurden Anfang März vier landesweite Sender zu einem einzigen zusammengelegt. Ein knappes Fünftel der vormals 1.500 Mitarbeiter musste gehen. Seitdem betreibt der ČRo vier landesweite sowie eine Reihe regionaler Sender, strahlt vier Kanäle digital aus und einen als Internetstream.

Die Privatradios und auch viele öffentlich-rechtliche Rundfunkstationen in anderen Ländern können indes schwerlich konkurrieren, wenn es um historische Dimensionen geht. Darauf verweist Duhan gerne. „Ich denke, wir haben eines der besten Archive in Kontinentaleuropa, und mit etwas Stolz nennen wir es das vertonte Gedächtnis des tschechischen Volkes.“

Beklemmender Fund
Dieses Schmuckstück ist eher unauffällig. Im dritten Untergeschoss lagern die Schätze, aber nicht etwa im alten Rundfunkgebäude aus dem Jahr 1933, sondern in einem vor Jahren hinzugekauften neuen Block. Kein modriges, verwinkeltes Labyrinth, sondern ein schlichter Raum aus grauem Beton mit verschiebbaren Regalen. Auch nicht sonderlich groß. Doch rund 50.000 Bänder, 11.000 CDs und 22.000 Schellackplatten mit alten Aufnahmen haben hier ihren Platz. Alles Neue wird hingegen heutzutage sofort digitalisiert. Dennoch wuchs vor kurzem die Sammlung noch einmal an. Miloslav Turek verwaltet sie. „Wir haben bei der Renovierung des alten Rundfunkgebäudes einige hundert Aufnahmen aus den dreißiger und vierziger Jahren gefunden.“ Es sind lauter silber-metallene Platten, die Turek jetzt nach und nach durchhören muss. Dabei machte er seine wohl aufregendste Entdeckung: die letzte Aufnahme von General Alois Eliáš im Oktober 1941, im Prager Gestapo-Hauptquartier, auf Deutsch. „Meines Wissens gibt es kein anderes Dokument, das bei der Gestapo aufgenommen wurde“, vermutet Turek. Die Aufnahme ist beklemmend, denn Eliáš plaudert jovial mit seinen Henkern, die ihn wegen der Unterstützung des Widerstands kurz zuvor zum Tode verurteilt haben. Im Juni 1942 wurde er als einziger Regierungschef eines von Hitler besetzten Landes hingerichtet.

Gerade aus den umfangreichen historischen Aufnahmen schöpft der Rundfunk, um an seine lange Geschichte zu erinnern. Seit Jahresbeginn laufen auf allen Kanälen entsprechende Sendungen. Die wohl umfangreichste nennt sich „Devadesátka“, jeden Tag wird dort in Kalenderform eine alte Aufnahme vorgestellt. Es sind geschichtsträchtige wie der Aufruf zum Prager Aufstand, aber auch unterhaltsame und kuriose. Höhepunkt der 90-Jahr-Feier ist ein Tag der offenen Tür am Samstag, 18. Mai und der Festakt einen Tag später im Theater „Divadlo na Vinohradech“. Dieser wird selbstverständlich live übertragen – mit allen Raffinessen heutiger Technik. Mit einem Feldversuch hat das schon lange nichts mehr zu tun. Viele Hörer sind zusammen mit dem Rundfunk gealtert. Die größte Herausforderung bleibt, wieder ein jüngeres Publikum anzusprechen.

Der Autor ist Leiter der deutschsprachigen Redaktion von Radio Prag.