Verkannter Zipfel
Die Region um Šluknov bietet mehr als ihr Ruf erahnen lässt
14. 11. 2013 - Text: Franziska NeudertText: fn; Foto: Kapelle des Heiligen Grabes auf dem Kalvarienberg in Šluknov (rumburk.farnost.cz/Jiří Stejskal)
In der Regel verirren sich eher wenige Reisende in den nördlichsten Zipfel Tschechiens. Machten in den vergangenen Jahren doch zahlreiche Negativschlagzeilen die Region Entdeckungslustigen abspenstig. Arbeitslosigkeit und gewalttätige Ausschreitungen gegen die Roma-Minderheit sind die Schlagworte, die wohl viele mit dem Schluckenauer Zipfel (Šluknovský výběžek) verbinden. Doch der böhmische Gebietsvorsprung zwischen Elbsandsteingebirge und Lausitzer Gebirge ist keineswegs eine trostlose Landschaft. Malerische Hügelzüge und bizarre Felsformationen, wie sie für die Böhmische Schweiz typisch sind, prägen das Landschaftsbild.
Seinen Namen erhielt der Zipfel von der nördlichsten Stadt der Republik: Šluknov. Die Geschichte des Ortes steht auch stellvertretend für das Auf und Ab Rumburks und Varnsdorfs, den anderen beiden größeren Städten der Region. Als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die deutschböhmische Bevölkerung aus Šluknov vertrieben wurde, ließen sich zunächst tschechische Neusiedler in der Stadt nieder. Später aber wanderten sie wieder ab. Es blieben die Alten; Roma zogen zu, von vielen nicht gerade erwünscht.
Der 5.500-Seelen-Ort präsentiert sich dem Besucher als ruhiges, beinahe verschlafenes Städtchen, dessen Reiz sich nicht auf den ersten Blick zu erkennen gibt. Leerstehende Ladengeschäfte, verlassene Kneipen und pittoreske, alte Häuser – Šluknov, so scheint es, schwankt heute zwischen heruntergekommenem Städtchen und hübschem Dorf. Den Marktplatz säumen Wohnhäuser, deren Erdgeschosse Vietnamesenmärkte, Herna-Bars und Gebrauchtwarengeschäfte beherbergen – sie machen Šluknov nicht gerade zu einer Perle prosperierender Urbanität.
Andererseits stechen die sogenannten Umgebindehäuser sofort ins Auge: ein der Oberlausitz und Niederschlesien eigener Häusertypus, der fränkisches Fachwerk und slawischen Blockbau miteinander vereint. Bürgerhäuser – allen voran das Jugendstilgebäude des Kulturhauses (Kulturní dům) – und Stadtvillen in so ziemlich jedem Zustand guter und schlechter Erhaltung vervollständigen das Straßenbild. Das Kulturhaus bildet den Ausgangspunkt für Fuß- und Radwanderwege. In nördliche Richtung führt ein sieben Kilometer langer Waldlehrpfad, der die Touristen mit den Sehenswürdigkeiten in der Umgebung vertraut macht.
Ein merkwürdig kompakter Schlossbau dominiert die Stadt. Unweit des Marktplatzes trotzt Schloss Šluknov dem Lauf der Zeit. Ursprünglich eine hölzerne Herrenresidenz mit Brauerei und Mälzerei, wurde das Anwesen im 16. Jahrhundert zu einem Schloss im Stil der sächsischen Renaissance umgeformt. 1986 brannte der Bau fast vollständig aus. Nach fast 20 Jahren Leerstand wurde er 2000 schließlich aufwendig renoviert. Vor sechs Jahren öffnete der typische Einhausbau erneut seine Pforten.
Heute können Besucher im ausgedehnten englischen Schlossgarten flanieren oder die wiederhergestellten Herrschaftszimmer besichtigen. Über deren Boden aus Intarsien darf nur schreiten, wer zuvor in die bereitgestellten Schlosspantoffeln schlüpft – für manch kleinen Gast eine erheiternde Schlitterpartie. Erhalten ist freilich nicht allzu viel: etwa die Fresken aus dem 17. Jahrhundert im Eingangsbereich sowie einige kunstvolle Kachelöfen. Im Erdgeschoss befinden sich ein Informationszentrum sowie eine Konditorei, die das Warten auf den nächsten Rundgang verkürzt. Im Schloss werden täglich Führungen angeboten. Auch finden regelmäßig Ausstellungen und Konzerte statt. Bis Mitte Dezember widmet sich beispielsweise die interaktive Schau „Vyřeš zločin!“ („Klär das Verbrechen auf!“) den Methoden der Kriminalistik.
Die Kreuzwege, die sich im Gebiet um Šluknov befinden, stellen ein einmaliges Phänomen in Böhmen dar. Insgesamt 14 solcher Pfade entstanden zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert im Schluckenauer Zipfel, ein jeder mit seiner eigenen Geschichte verbunden. Den Bau der Wallfahrtswege initiierten sowohl Einzelpersonen als auch Pfarrgemeinden. Kreuzwege stellten einen integralen Bestandteil des christlichen Lebens der Gemeinde dar. Nach der Aussiedlung der deutschen Bevölkerung wurden viele von ihnen zerstört, einige jedoch nach 1989 wiederhergestellt.
Der älteste Kreuzweg in der Region befindet sich im südlichen Teil Šluknovs auf dem sogenannten Kalvarienberg am Fuße der Křečanská-Straße. Die gesamte Anlage steht heute unter Denkmalschutz – sie bildet eine eigenständige Einheit von regionalhistorischer und religiöser Bedeutung. Einer Legende zufolge ist die Entstehung des Kreuzweges auf dem Kalvarienberg mit dem Brauereigesellen Anton Drösel verbunden. Dieser soll, nachdem er von einer Wanderung in den Ort zurückkehrte, versprochen haben, einen Kreuzweg zu errichten, sollte es ihm gelingen, sich erfolgreich in Šluknov niederzulassen. Die ersten Arbeiten erfolgten vermutlich um 1738, eingeweiht wurde der Kreuzweg erst um das Jahr 1756. Zu ihm zählen zwölf Stationen. Drei Kapellen befinden sich am Eingang des Geländes. Zum Weg gehört ferner ein Garten unterhalb des Berghangs. In der Grünanlage können Sandsteinstatuen der Apostel Peter, Jakobus und Johannes sowie ein kniender Christus und eine Engelsfigur besichtigt werden.
Eine Übersicht über Kreuzwege rund um Šluknov findet man unter www.rumburk.farnost.cz
Ausflugstipps in der Nähe von Šluknov
Burg Tolštejn
Etwa 20 Kilometer südlich von Šluknov befindet sich eine der romantischsten Burgruinen Tschechiens: Tolštejn (Tollenstein). Im Mittelalter zählte sie zu den bedeutendsten Wehranlagen Nordböhmens. Wie ein Kranz schmiegt sich die Burg um den höchsten Punkt des Tollensteins (670 Meter ü. M.), den man über Treppen erreichen kann. Für Besucher ist Tolštejn ein idealer Ausgangspunkt für Wanderungen zu den umliegenden Gipfeln des Lausitzer Gebirges. In westlicher Richtung erreicht man etwa den nahen Tannenberg (Jedlová) mit seinem bereits aus der Ferne auffallenden Aussichtsturm. Etwa zwei Kilometer nördlich von Tolštejn liegt die ehemalige Bergarbeiterstadt Jiřetín pod Jedlovou (Sankt Georgenthal); ein Museum und Lehrpfad beleuchten hier die Geschichte des Silberbergbaus.
Herrnhut
Herrnhut liegt rund 27 Kilometer östlich von Šluknov. Bekannt dürfte die Stadt heute vielen wegen der sogenannten Herrnhuter Advents- und Weihnachtssterne sein, die von der dort ansässigen Brüdergemeinde im 18. Jahrhundert entwickelt wurden. Einen Besuch lohnt nicht nur die Herrnhuter Sternemanufaktur mit Schauwerkstatt, sondern auch das Völkerkundemuseum mit seiner ethnographischen Sammlung Herrnhuter Missionare. Zu den wichtigsten Kulturdenkmälern der Region zählt der Herrnhuter Gottesacker. Mit seiner betonten Schlichtheit prägte die um 1730 von der Herrnhuter Brüdergemeinde angelegte Grabstätte die Friedhofsästhetik bis heute.
Herrnhuter Sternemanufaktur, geöffnet: Mo.–Fr. 9–18 Uhr, Sa. 10–17 Uhr, Eintritt und Führung kostenfrei, www.herrnhuter-sterne.de
Völkerkundemuseum Herrnhut, geöffnet: Di.–Fr. 9–17 Uhr, Sa.–So. 9–12 Uhr und 13.30–17 Uhr, Eintritt: 3 Euro (ermäßigt
2 Euro), www.voelkerkunde-herrnhut.de
Sommerfrische in der Steiermark
An der Blutigen Straße