Verheißungsvolle Signale

Verheißungsvolle Signale

Das „Filmfest“ zeugt vom hohen Niveau des deutschsprachigen Kinos

10. 10. 2012 - Text: Stefan WelzelText: Stefan Welzel, Foto: Das Filmfest

 

Wem kann man trauen in einer Gesellschaft, in der die Wahrheit oft im Verborgenen liegt? Welche Mächte beeinträchtigen das Schicksal Einzelner und wie kann ein Individuum darauf reagieren? Es sind unter anderem solche Fragen, die die Beiträge des deutschsprachigen Filmfestivals in Prag und Brünn aufwerfen – unabhängig von Handlung, Epochenbezug und Genre. Eines macht die diesjährige Ausgabe des „Filmfestes“ deutlich: So umfassend, ausdifferenziert, vielseitig und anspruchsvoll wie derzeit präsentierte sich der deutschsprachige Film schon lange nicht mehr.

In vier Kategorien unterteilt (Fokus Frau, Das Filmfest Spezial, Filmstadt Berlin, Die Doku), veranschaulichen 25 Werke aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, dass der Weg aus den schwächeren Zeiten der insgesamt eher mediokren Nullerjahre vor allem über konsequente Konzepte führt. Natürlich gab es in den vergangenen zehn Jahren Ausnahmen wie zum Beispiel „Das Leben der Anderen“ von Florian Henckel von Donnersmarck, diese bestätigten aber wirklich nur die sprichwörtliche Regel.

Kreative Schweizer
Dass der Cineast von österreichischen Produktionen spannende Geschichten und eine vortreffliche schauspielerische Umsetzung erwarten kann, ist nichts Neues, dass aber gerade wieder aus dem 80 Millionen-Staat Deutschland eine breite Palette anspruchsvoller und gesellschaftskritisch relevanter Beiträge auszumachen ist, erfreut ganz besonders. Noch etwas mehr staunt man darüber, dass auch die Eidgenossen wieder im Stande sind nicht nur spannende Dokumentationen, sondern auch den einen oder anderen herausragenden Spielfilm zu drehen. In „Der Verdingbub“ setzt Markus Imboden die Lebensumstände von Waisenkindern in den fünfziger Jahren in Szene. In dem Alpenland wurden diese oftmals als billige Arbeitskräfte zu Bauernfamilien geschickt. Dort mussten sie in sklavenähnlichen Verhältnissen leben – in totaler Abhängigkeit und der Willkür ihrer Gasteltern ausgesetzt. Den meisten Waisen war es nicht vergönnt, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Gesellschaftliche Konventionen, finanzielle Zwänge und eine mangelhafte Ausbildung ließen sie in einem Leben verharren, das kaum Perspektiven bot. Jungschauspieler Max Hubacher wurde bei der Berlinale für seine Interpretation der Hauptrolle als „Shooting Star“ ausgezeichnet.

Cihan Inan und sein Film „180° – Wenn deine Welt plötzlich Kopf steht“ spiegelt eine komplett andere Gesellschaft wieder. Im mondänen und multikulturellen Zürich von heute kreuzen sich die Lebensgeschichten gänzlich unterschiedlicher Paare in einem tragischen Unfall. Die Existenz aller Beteiligten erfährt eine radikale Wendung, als die Schüler Sabine und Kemal von einem hedonistischen Banker überfahren werden. Die sehenswerten Dokumentationen „Der Italiener“ von Paolo Pasini und „Flying Home“ des 70-jährigen Zürichers Tobias Wyss ergänzen den Schweizer Beitrag zum Filmfest.

Derb und präzis
Die österreichischen Höhepunkte setzen die beiden Dramen „Kuma“ und „Am Ende des Tages“. In der Kategorie „Fokus Frau“ läuft das Drama von Umut Dag um die junge Ayşe, die als Kuma (Zweitfrau) in eine in Wien lebende türkische Familie einheiratet. Aus dem etwas rückständigen und traditionsverbundenen Anatolien kommend, trifft Ayşe nicht nur auf eine ihr fremde Umgebung, sondern auch auf allerlei Anfeindungen inner- sowie außerhalb der heimischen vier Wände. „Am Ende des Tages“ von Peter Payer steht allegorisch für die ungeschminkte, präzise und teilweise derbe Art, wie das österreichische Kino in jüngster Vergangenheit auf sich aufmerksam gemacht hat. Jungpolitiker Robert fährt mit seiner schwangeren Frau Katharina auf einen Wochenendtrip nach Tirol. Auf dem Weg dorthin trifft er seinen Jugendfreund Wolfgang, der dem Paar nachstellt und wie ein Menetekel aus längst vergangenen Tagen einen Schatten über Roberts Zukunft wirft. Ein düsteres Geheimnis verbindet die beiden, und Katharina beginnt im Verlaufe dieses Psycho-Roadmovies Dinge zu erkennen, die besser im Verborgenen geblieben wären. Beim Internationalen Kriminalfilm-Festival im belgischen Liège gewann der Thriller den Publikumspreis. Explizit hervorzuheben gilt die Leistung von Simon Schwarz als Robert. Der 41-jährige Wiener ist zur Zeit wohl einer der besten und herausragendsten Schauspieler im deutschsprachigen Kino.

Starke Frauen
Dasselbe kann man auf der weiblichen Seite mit Fug und Recht von Nina Hoss behaupten. Nebst ihrem viel beachteten Engagement auf den etablierten Theaterbühnen spielt die Stuttgarterin auch immer wieder in Film- und Fernsehproduktionen mit. In Christian Petzolds „Barbara“ verkörpert sie eine von Zweifel und Unsicherheit geplagte Ärztin aus Ost-Berlin. Nachdem die junge Frau einen Ausreiseantrag an den undurchsichtigen Beamtenapparat der DDR gestellt hat, wird sie in die mecklenburg-vorpommersche Provinz strafversetzt. Dort trifft sie in einem Kinderkrankenhaus auf André – ihren neuen Chef und vorläufig einzigen sozialen Bezugspunkt. Er gibt sich unpolitisch und loyal gegenüber seinem Land. Barbara weiß nie, ob sein Interesse an ihr echt ist oder ob er als Spitzel der Stasi ein Auge auf sie zu werfen hat. Zur gleichen Zeit plant sie mit ihrem Geliebten, der schon im Westen ist, die Flucht. Wahrheit und Schein, Sehnsucht und Heimatverbundenheit, Liebe und Hoffnung vermischen sich für die Protagonistin zu einer undurchsichtigen Situation. Der Film geht für Deutschland als bester nicht englischsprachiger Beitrag ins Oscar-Rennen.

Diesen Platz könnten problemlos auch Christian Schwochos „Die Unsichtbare“ oder David Wnendts „Die Kriegerin“ einnehmen. Wie „Barbara“ laufen auch diese in der Sparte „Fokus Frau“. Speziell die Geschichte der jungen Neonazi Marisa, die sich als Kriegerin für die arische Rasse versteht, zieht den Zuschauer in ihren Bann. Alina Levshins spielt die zunächst überzeugte, dann nachdenklich und sich von der Szene abwendende Radikale mit derart viel Überzeugung, dass man den Streifen auf keinen Fall verpassen sollte.

Gänzlich anders zu verorten ist Leander Haußmanns Mainstream-Produktion „Hotel Lux“ mit Michael „Bully“ Herbig und Jürgen Vogel in den Hauptrollen. Beide verkörpern deutsche Exilanten, die zur Nazizeit ins stalinistische Moskau fliehen und dort mit Witz und Verstand dem Verfolgungsapparat der Kommunisten trotzen. Das ist nicht sonderlich anspruchsvoll, doch dafür unterhaltsam. Und etwas Auflockerung kann dem von tragischen Dramen dominierten Filmfest nicht schaden. Auch in dieser Komödie sind die Individuen schwammigen, diffusen und undurchdringlichen Kräften ausgesetzt, denen sie sich widersetzen müssen. Allerdings wird die Frage und Suche nach Wahrheit weder gestellt noch angestrebt – zum Glück, für solche Themen wäre Bully Herbig auch die falsche Besetzung.

Das Filmfest, 17. bis 21. Oktober, Programm in Prag siehe Seite 12 dieser Ausgabe, www.dasfilmfest.cz