Unter die Haut

Unter die Haut

123 Filme, 34 Städte, eine Welt: Menschenrechte auf der Leinwand beim Festival „Jeden svět“

2. 3. 2016 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Fotos: Jeden svět

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen. Mit diesen Worten beginnt die Allgemeine Erklärung der Menschen­rechte. Sie beschreiben auch das Thema des Doku­mentar­filmfestivals „Jeden svět“ („Eine Welt“), das vom 7. bis 16. März in Prag stattfindet.

Mutige können sich zu diesem Anlass die Menschenrechts­erklärung sogar mit Tinte in die Haut stechen lassen. Das Kunstprojekt „Human Rights Tattoo“ zählt zu den Gästen des Festivals und will den gesamten Text der Deklaration, 6.773 Buchstaben, auf ebenso vielen Körpern aus der ganzen Welt verewigen. Ein Buchstabe pro Person. Ungefähr 50 stehen für das Prager Festival zur Verfügung, das in diesem Jahr bereits zum 18. Mal Filme über Menschenrechte zeigt, Aktivisten aus aller Welt einlädt und ein Forum für Diskussionen bildet.

Auch wenn es vom Krieg in der Ukraine über Adoptionsrechte für Homosexuelle bis hin zu nachhaltiger Mode und der Ausgrenzung von Behinderten viel zu debattieren gibt – den Rahmen gibt das Thema Migration und Flucht vor. „Looking for home“ („Suche nach Heimat“) ist das Motto des Festivals. Die Filme der gleichnamigen Sektion zeigen unter anderem den Alltag von Flüchtlingen in schwedischen Heimen („Detained“), kuriose Begegnungen beim Warten auf Asylbescheide in der bayerischen Provinz („Café Waldluft“) und enttäuschte Hoffnungen nach der Ankunft in Europa („A Syrian Love Story“). Regisseur Sean McAllister hat seinen sehr persönlichen Film über ein syrisches Dissidentenpaar und dessen Flucht bereits mit Erfolg auf dem Dokumentarfilmfestival in Jihlava vorgestellt und wird auch in Prag zu Gast sein. Ganz ohne Betroffenheitskitsch hat er das dramatische Leben von Raghda, Amer und ihrem Sohn dokumentiert, die im Laufe der fünfjährigen Dreharbeiten für McAllister zu Freunden wurden.

Im Eröffnungsfilm „No Man is an Island“ beginnt Adam ein neues Leben auf der Insel Lampedusa.

Der Eröffnungsfilm „No Man is an Island“ folgt Omar und Adam aus Tunesien und Ghana, die von zwei italienischen Familien auf der Insel Lampedusa aufgenommen wurden. „Obwohl die Prota­gonisten einen Ort zum Leben gefunden haben, fühlen sie sich nicht glücklich und frei“, erklärt Hana Kulhánková, Direktorin des Festivals. „Sie sind immer noch von jemandem abhängig.“ Den Film bezeichnet sie als Metapher für das, was Flüchtlinge in verschiedenen Ecken der Welt erleben. Die Beiträge in der Kategorie „Suche nach Heimat“ behandeln die europäische Gesellschaft und die polarisierenden Meinungen zum Umgang mit Geflüchteten. „In der Debatte um Migration gehen Werte wie Offenheit und Solidarität verloren“, warnt Kulhánková.

Offenheit zeigen, bereit sein, die Grenzen des eigenen Horizonts zu überschreiten, die Möglich­keiten neuer Technologien ausloten – auch das wird ein Aspekt im Programm sein. Einerseits durch die Filme in der Kategorie „Mezi druhy“ („Zwischen den Arten“), in denen es um die Beziehung des Menschen zu Tieren und künstlicher Intelligenz geht. Vielleicht werden sich in Zukunft „soziale Roboter“ um die Alten kümmern wie im Film „Alice Cares“. Oder es werden eines Tages Außerirdische auf der Erde landen – mögliche Szenarien dafür werden in der fiktiven Dokumentation „The Visit“ entworfen. Die Besucher des Festivals können für eine Spielfilmlänge sogar selbst in eine fremde, virtuelle Haut schlüpfen und mit Hilfe von Computern oder Virtual-Reality-Brillen beispielsweise das Londoner U-Bahn-Attentat von 2005 und seine Folgen für Betroffene nachempfinden („Witness 360: 7/7“) oder als Grenzbeamter ins Niemandsland zwischen Nord- und Südkorea reisen („DMZ. Memories of No Man’s Land”). Die vielfach preisgekrönte interaktive Serie „Do Not Track“ arbeitet mit Informationen, die sich aus IP-Adressen und in sozialen Netzwerken veröffentlichen Daten ableiten lassen.

Empörung und Engagement, das wünscht sich das Festivalteam von seinen Besuchern in Prag, Brünn, Karlovy Vary und anderen Städten; 18 Dokumentationen sind direkt mit Kampagnen verknüpft, die ein konkretes Ziel haben, wie beispielsweise den Fleischkonsum zu begrenzen („Cowspiracy: The Sustainability Secret“). Die Filme beim „Jeden svět“ sollen nicht nur künstlerischer Selbstzweck sein – sie sollen unter die Haut gehen.

Jeden svět. Dokumentarfilmfestival für Menschenrechte. 7. bis 16. März in den Prager Kinos Lucerna, Světozor, Atlas, Evald, Ponrepo, im Ungarischen und Französischen Institut sowie in der Stadtbibliothek, anschließend in 32 weiteren tschechischen Städten und in Brüssel, www.oneworld.cz