Tabak und Kubismus

Tabak und Kubismus

Stammkunden bedient Zdeněk Kudrna ohne Worte, Touristen in ihrer Landessprache. Am Hauptbahnhof betreibt
er einen Kiosk, der unter Denkmalschutz steht

9. 4. 2014 - Text: Corinna AntonText und Foto: Corinna Anton

 

Zdeněk Kudrna kennt vier Kategorien von Kunden. „Es gibt die internationalen Touristen und die tschechischen Reisenden, die Leute, die hier arbeiten, und die Leute, die hier nicht arbeiten.“ Kudrna schweigt bedächtig und wartet auf eine Frage. Und welche sind ihm am liebsten? „Das sind die treuen Kunden, und die mit guter Laune.“ In seinem Kiosk in der Bolzanova-Staße am Prager Hauptbahnhof bedient Kudrna täglich rund 1.000 Kunden. Etwa 20 bis 30 Prozent, schätzt er, sind Stammgäste: Geschäftsleute mit ledernen Aktentaschen ebenso wie Obdachlose, die ihren gesamten Besitz in einer abgewetzten Plastiktüte mit sich tragen. Der Rest der Kunden kommt aus aller Welt. Dass sie ihren Tabak oder ihre Zigaretten, ihre Fahrkarte für die Straßenbahn oder ihren Kaugummi in einem ganz besonderen Kiosk kaufen, interessiert nicht viele.

Kudrnas Arbeitsplatz ist Prags einziger Kiosk im Stil des Rondokubismus und steht seit 1981 unter Denkmalschutz. Der Rondokubismus, eine besondere tschechoslowakische Ausprägung des Kubismus, wurde nach der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik in den zwanziger Jahren auch als „Nationalstil“ bekannt. Er zeichnet sich unter anderem durch runde Ornamente wie Halbkreise und Rundbögen sowie die tschechischen „Nationalfarben“ Rot, Weiß und Blau aus. Als sein Mitbegründer gilt der Architekt Pavel Janák, als bekanntestes Gebäude die von Josef Gočár entworfene Legiobank in der Prager Straße Na Poříčí.

Halbkreise, Rundbögen und die Farben Rot und Weiß finden sich auch an der Fassade des kleinen Häuschens an der Bolzanova-Straße. Im Inneren des Kiosks zwischen Tabak und Kaugummi steht Kudrna, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Auf der Ladentheke liegt ein Krimi-Heftchen mit dem Titel „Der Mann, der zweimal starb“ neben dem Prager Kulturprogramm für ­April. „Dieser Bau ist zauberhaft, man kehrt in der Erinnerung in die Jahre der Kindheit zurück, als man das Märchen mit dem Pfefferkuchenhäuschen gelesen hat“, sagt Kudrna.

Ein Kunde betritt sein Pfefferkuchenhaus, ein Deutscher mit Birkenstocksandalen und dunklen Strümpfen, die Digitalkamera in der Brusttasche. „Zwei Fahrkarten bis zur Station Anděl“ verlangt er auf Deutsch, Kudrna antwortet in derselben Sprache. „Nicht alle spüren den Zauber“, sagt Kudrna, als der Kunde den Kiosk verlassen hat. Aber manchen sei es bewusst, dass sie in einem Denkmal einkaufen.

Wenn Kudrna das merkt, dann kramt er etwas aus einem Korb hinter seiner Theke hervor. Eigentlich hatte er mit Kunstgeschichte nichts am Hut. Schach und Briefmarken waren seine Hobbys. Aber als er vor acht Jahren Mieter in Prags einzigem rondokubistischen Kiosk wurde, hat er sich „in die Thematik eingearbeitet“, wie er sagt. Mit einem befreundeten Fotografen zusammen hat er eine Postkartenserie herausgegeben, die jedes Jahr erweitert wird. Der Kiosk ist darauf neben anderen, weit berühmteren Motiven abgebildet, wie der Karlsbrücke, dem Moldauufer oder der Prager Burg. Wer sich für die Geschichte des Kiosks interessiert, dem schenkt Kudrna eine Postkarte, oder gleich die ganze Serie. Wer den Kiosk in den zwanziger Jahren entworfen hat, ist nicht belegt. Denkmalschutzexperten vermuten jedoch, dass Pavel Janák beteiligt war, da der Bau Ähnlichkeiten zu Werken aufweise, die der Architekt in dieser Zeit schuf. Auch zu einigen Objekten seines Kollegen Josef Gočár lassen sich Parallelen finden.

Ein bisschen Psychologe
Eine junge Frau überquert die Straße und kommt auf den Kiosk zu. Kudrna greift nach einer Packung Zigaretten und legt sie auf den Verkaufstisch, noch bevor die Frau den Laden betritt. Sie gehört offenbar zur Kategorie der Kunden, die hier arbeiten. Sie legt das Geld hin, lächelt, es wird kein Wort gesprochen, vielleicht ein leises „danke“, das aber eher durch ein Nicken angedeutet wird. Ein kurzer Blickwechsel ersetzt das „auf Wiedersehen“.

Sie habe einmal ihren Schlüsselbund hier liegen lassen, erinnert sich Kudrna. „Das war um die Mittagszeit. Erst abends kam sie wieder, um ihn abzuholen.“ Von manchen Stammkunden weiß er nur, welche Tabakmarke sie rauchen oder welche Kaugummisorte sie mögen. Von anderen kennt er fast die ganze Lebensgeschichte. „Es kommt darauf an, wie kommunikativ die Kunden sind und wie viel Zeit sie haben. Wenn die Leute Sorgen haben, ist man hier manchmal auch ein bisschen Psychologe.“ Er holt eine Tüte mit Keksen unterm Tresen hervor. „Weil hier hinten gleich der Vrchlické-Park ist“, sagt er. Für die Stammkunden? „Für die Hunde der Stammkunden.“

Rettung in letzter Minute
Am meisten verkaufen sich im kubistischen Kiosk derzeit Tabak und Zigaretten sowie Papier und Filter, darauf folgen Zeitungen und Zeitschriften, Getränke und Süßwaren. Wie das bei seinen Vorgängern und den ersten Kioskbetreibern war, kann Kudrna nicht sagen.

Eine Touristin will wissen, wo die Straßenbahn Nummer drei abfährt. Er erklärt, zeigt mit den Händen in die Richtung. „Es gibt Spekulationen darüber, dass hier im Laufe der Zeit auch einmal eine Toilette war, oder ein Süßwarengeschäft. Aber genau wissen das auch die Denkmalpfleger nicht.“ Belegt ist dagegen, dass es Anfang der achtziger Jahre schlecht um den Kiosk stand, er war schon stark zerstört, sollte abgerissen werden. Auf Initiative staatlicher Denkmalschützer wurde er gerettet und restauriert, „besser als die Karlsbrücke“, findet Kudrna. Mühe bereitet ihm jedoch die Instandhaltung. Denn mit seinen großen weißen Flächen lockt der Kiosk immer wieder Sprayer an. Kaum ist die Fassade gereinigt und frisch gestrichen, beginnt das Spiel meist von vorn.

Kudrna bleibt nichts anderes übrig, als die Graffitis immer wieder von Neuem wegzumachen. Eine Sisyphusarbeit. Er seufzt, eine Touristin betritt den Kiosk, fragt auf Englisch, wo es „zum Fluss“ geht. Kudrna erklärt ihr den Weg. Deutsch, Englisch, Russisch, ein bisschen Französisch, ein bisschen Italienisch, zählt er auf und überlegt.

Slowakische und polnische Kunden versteht er auch. „Auf Japanisch kann ich nur danke sagen.“ Aber damit ist er vorsichtig, seit er sich einmal bei Kunden, die er für Japaner hielt, höflich in deren Landessprache bedankte. „Korea“, haben sie ihm geantwortet.

Ja, das könne man so sagen, er habe sich in den Kiosk verliebt, bestätigt Kudrna nach kurzem Überlegen. Deswegen ist er auch jeden Tag hier. Obwohl er manchmal müde ist, lässt er sich nicht gerne von Aushilfen vertreten. Denn mit den Leuten sei es wie bei einer Lotterie, mit dem Vertrauen so eine Sache. Der Kiosk mit seinem besonderen Baustil sei nur das Eine. „Das andere ist die Beziehung zu den Kunden.“ Gibt es eine ganz besondere, von der er erzählen möchte? Eine junge Russin mit spitzen Lackschuhen kommt herein, nuschelt ein kaum hörbares „guten Tag“ und fragt halb auf Russisch, halb auf Tschechisch nach zwei Fahrkarten. Als sie den Laden verlassen hat, sagt Kudrna: „Das würde wohl ein Buch füllen.“