Stadtansichten

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Mehr Platz für Nachtschwärmer!

29. 1. 2014 - Text: Martin NejezchlebaText: Martin Nejezchleba; Foto: APZ

Sechs Minuten nach zwei Uhr, Haltestelle I.P. Pavlova. In der Nacht-Straßenbahn mit der Nummer 51 erklingt ein schriller Pfeifton. Ich atme tief ein. Das hilft – aus zwei Gründen. Zum einen fülle ich meine Lungen mit mehr oder weniger frischer Stadtluft, bevor mich die Klapptür erbarmungslos in der ratternden Sardinenbüchse einschließt. Die Tram ist bis zum Bersten gefüllt mit Betrunkenen und einer sauerstoffarmen Mischung aus Schweiß- und Alkoholausdünstungen. Zum anderen verringert das Luftholen meinen Körperumfang um die nötigen Millimeter. Die Tür kann schließen.

Nachttrams sind praktisch und unterhaltsam. Wohnt man wie ich in der Nähe einer Haltestelle, die von zwei Linien bedient wird, kommt man mit ihnen auch nach Mitternacht im 15-Minuten-Takt nach Hause. Nachts wird Entertainment in öffentlichen Verkehrsmitteln groß geschrieben. Hitzige Streitereien, ein Nachhilfekurs in Prager Slang, bierselige Albernheiten, schräge Gestalten. Das alles zum normalen Tagestarif.

Nur sind Nachttrams meist unerträglich voll. Die Standard­auslastung eines Straßenbahnwaggons liegt laut der Firma Ropid, die in der Hauptstadt für die Planung des öffentlichen Nahverkehrs zuständig ist, bei 69 Passagieren. Umgerechnet sollen sich also vier Reisende einen Quadratmeter teilen. 24 Kronen pro halbe Stunde für einen viertel Quadratmeter. Das ist normal, meint Ropid. Ich bin da anderer Meinung.

Nachts setzt Ropid allem Anschein nach einen noch strafferen Maßstab an. Ich kann die Menschen nicht zählen, die gerade mit mir über die Weiche stottern. Aber eines weiß ich: Ein viertel Quadratmeter wäre hier Luxus. Hier, das heißt auf der untersten Treppenstufe unter der Achsel eines Mitfahrers, der eine Stufe höher steht und sich krampfhaft gegen die Tür stemmt.

Nächste Haltestelle, Náměstí Míru. Die Fahrgastmasse ergießt sich mit mir voran auf den Gehsteig. Ich schnappe nach Luft und frage mich: Will mir Ropid eine Lehre erteilen? Sollte ich in einer Nacht auf Freitag nicht schon längst im Bett liegen, um am nächsten Morgen voller Elan meinen Teil zum Bruttoinlandsprodukt beizutragen?

Es wäre so einfach, den Nachtschwärmern menschenwürdige Reisebedingungen zu bieten. Nachttrams fahren in Prag, egal ob zu Spitzenzeiten wie jetzt um kurz nach zwei oder um halb fünf, wenn nur die ausdauerndsten Party- auf die ärmsten Arbeitstiere treffen, immer nur mit einem Waggon. Dahinter steckt offenbar erzieherisches Kalkül: Wer sich nachts übermäßig vergnügt, der muss leiden.

Im Spätsommer 2010 wollten sich die Prager Stadträte beliebt machen. Wahlen standen vor der Tür. Prompt wurden an Wochenenden die Fahrtzeiten der Metro bis 1 Uhr verlängert. Die Fahrgäste der Nachttrams konnten zumindest zwischen Freitagen und Sonntagen etwas aufatmen. Weil viele die letzten U-Bahn-Verbindungen wahrnahmen, war den Tramfahrgästen der standardisierte Viertelquadratmeter auch nachts vergönnt. Bis zum darauffolgenden März. Die Wahlen waren passé, Sparmaßnahmen standen nun auf der Tagesordnung. Angesichts der Enthüllung, dass 17 Heller von jeder entrichteten Fahrkarte auf ein Offshore-Konto auf den Jungferninseln geflossen sind, war das vielleicht eine kluge Maßnahme. Dass gar keine Nachttrams mehr fahren, wollen wir schließlich auch nicht. Die Metro machte also wieder um Mitternacht dicht. Der Ropid-Standardkomfort war angeblich unwirtschaftlich.

Ich zwänge mich zurück auf meinen Platz auf der Stufe. Draußen steht ein achselzuckendes Pärchen. Für sie ist kein Platz mehr. Ich denke: Wirtschaftlich ist, wenn sich das Angebot nach der Nachfrage richtet. Ropid aber lässt Übernachfrage kalt. Einen zweiten Waggon anzukoppeln, darauf ist bei den Planern noch keiner gekommen. Ich atme nochmals tief ein – und steige aus. Zu Fuß ist Prag immer noch am schönsten.