Spaziergang mit einem Urbanisten

Spaziergang mit einem Urbanisten

Stefan Rettich plant mit seinem Leipziger Architekturbüro Bibliotheken im Freien, mit seinen Studenten in Bremen untersucht er, wie urbane Orte Gewalt fördern. Er ist Experte für Raum, Kommunikation und Architektur. Mit dem frischen Blick des fremden Flaneurs betrachtet er drei Plätze in der Prager Innenstadt

31. 10. 2013 - Text: Martin NejezchlebaText und Foto: Martin Nejezchleba

 

Station 1: Einfach queren
Náměstí Republiky, Platz der Republik. Diesen Namen trägt die großzügig angelegte Fußgängerzone nördlich vom Pulverturm nicht zufällig. Am 28. Oktober 1918 wurde hier, im pompösen Jugendstilgebäude des Gemeinde­hauses die Erste Tschechoslowakische Republik ausgerufen. Über Jahrzehnte war der Platz Zentrum des gesellschaftlichen Lebens in der Hauptstadt. Der Platz ist Verkehrsknotenpunkt und Einkaufsparadies. Bereits Ende der Siebziger entstand das damals größte Kaufhaus des Landes, Kotva. 2007 wuchs eine weitere gigantische Shopping Mall aus dem Boden. Von der historischen Kaserne, die früher an der Stelle des „Palladium“ stand, blieb nur die Fassade.

„Hier finde ich positiv, dass es Gebäude aus unterschiedlichen Zeitaltern gibt. Der Platz ist stark historisch dominiert, aber so ein Siebziger-Jahre-Kaufhaus, obwohl es ganz anders ist, fügt sich auch gut ein. Dann gibt es auf der anderen Seite ein vielleicht nicht besonders tolles Bankgebäude, aber irgendwie nimmt es sich auch ein bisschen zurück. Was wird das sein? Das ist schon irgendwie postsozialistisch. Obwohl die Bebauung sehr heterogen ist, gibt es doch eine gewisse Einheitlichkeit. Das ist kein unangenehmer Platz. Aber man merkt auch: Es ist kein Platz für den Aufenthalt. Und so scheint er auch nicht konzipiert zu sein. Die Leute laufen von A nach B, von C nach D. Das ist so ein Platz, den man einfach quert. Und das braucht eine Stadt auch, also Flächen, über die man einfach drüberschreitet. Man braucht nicht nur Aufenthaltsräume, sondern auch Transiträume. Und zu der Mall: Es gibt einfach diese gesellschaftliche Tendenz, um die kommt man offenbar nicht herum. Nun gibt es zwei Alternativen: Entweder entstehen die auf der grünen Wiese, was unglaublich viel Verkehr nach sich zieht, oder man integriert sie in die Städte. Dann stellen sich zwei Fragen: Ist es architektonisch gelungen? Da kann man sagen: Okay, diese Eingangsfront ist vielleicht ein bisschen aufgemotzt, aber sie ist in ein altes Gebäude integriert. Man muss schauen, wie es innen gemacht ist. Die zweite und zentrale Frage ist, ob es eine integrierte Mall ist, also ob sie sich vernetzt mit dem bestehenden Straßensystem oder ob sie einfach nur die Leute wie ein Staubsauger abzieht. Ein klassisches Beispiel einer traditionellen Mall, einer Passage, ist die Galleria Vittorio Emanuele in Mailand. Die verbindet einfach den Dom­platz mit der Piazza della Scala mit der Mailänder Scala. Und damit ist sie integriert, verbindet zwei wichtige Plätze und funktioniert wie eine Straße. Und gegen Einkaufsstraßen gibt es eigentlich nichts einzuwenden.“

Station 2: Die Stadt im Wartezustand
Der Masaryk-Bahnhof, die älteste Bahnstation Prags. Täglich steigen hier zehntausende Pendler aus Regionalzügen aus und finden sich mitten in der Stadt wieder. Die verglaste Eingangshalle erstrahlt seit der Renovierung vor zwei Jahren im ursprünglichen Glanz der Industrialisierung. Der Rest wirkt trostlos: modrige Lagerhallen, rostige Bauzäune, ranzige Bahnhofskneipen. Seit Jahren wird über eine neue Nutzung der Brachflächen rund um die Schienenanlage diskutiert. Entstehen sollen hier – was sonst – Büropaläste aus Stahl und Glas.

„Das nennt man Konversionsfläche, das heißt, dass sich die Nutzung verändern wird. Meistens sind das altindustrielle Flächen oder Areale, die irgendwann während der Industrialisierung intensiv genutzt wurden und jetzt nicht mehr genutzt werden. Man kann sie wieder an die Stadt anbinden. Aber man sollte hier, denke ich, nichts machen, wenn es keinen extremen Druck gibt. Um einfach irgendetwas zu machen – dafür scheint mir die Fläche zu zentral zu sein. Sie wirkt auch nicht besonders negativ auf die Stadt … gut, die Zaunanlage außen herum, die ist nicht besonders schick. Aber das muss eine Stadt auch vertragen, die kann nicht überall nur total schön sein. Gerade in Prag, das ja sehr dicht und homogen bebaut ist, ist es aus meiner Sicht überhaupt kein Problem, dass da mal ein paar Brüche und so eine Stadt im Wartezustand zu sehen sind. Zu prüfen wäre eher, wie das in der Stadtstruktur liegt, also strukturell, ob man da eventuell mit einer Grünverbindung bestimmte Stadtteile miteinander verbinden könnte. Entlang der Bahnlinie werden oft Stadtteile durchschnitten. Vielleicht kann man das jetzt nutzen, um parallel zu den Bahngleisen eine wichtige Radwegverbindung oder eine Grünzone einzurichten. Aber man kann das auch ohne Not so lassen. In Osteuropa ist der Reurbanisierungsprozess noch nicht so stark angekommen, da sind solche Flächen eigentlich als Reserve extrem wichtig. Denn irgendwann wird der Druck größer werden und dann hat man auch bessere Möglichkeiten, gemeinsam mit den Investoren eine bessere Qualität zu erzielen. Es schadet nicht, eine Fläche liegen zu lassen, bevor nicht die Nutzung gefunden wurde, die für die Stadt verträglich ist. Eine reine Bürostadt hier aufbauen? Es wird sich in Prag auch abzeichnen, dass man in innerstädtischen Lagen wieder mehr Wohnraum braucht. Sobald sich dieser Trend von der Suburbanisierung zur Reurbanisierung einstellt, dann sind das die Reserveflächen, die man für neue Wohnungsbau­projekte braucht.“

Station 3: Der selbsterklärende Platz
Der Wenzelsplatz. Beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts standen sich im August 1968 sowjetische Panzer und tschechische Demonstranten gegenüber, hier spielten sich die Schlüsselszenen der Samtenen Revolution ab. Der Wenzelsplatz ist bis heute das Herz der Stadt, belebte Einkaufsstraße, Treffpunkt für Junkies. Der untere Teil des Platzes ist vorübergehend Fußgängerzone. Mehrere Polizeiwagen hindern Autos an der Einfahrt. Unterhalb des Nationalmuseums, der Dominante am oberen Ende des Boulevards, fahren täglich bis zu hunderttausend Autos über die Stadtautobahn.

„Ich finde es grundsätzlich eine tolle Idee, diese Fußgängerzone erst einmal auszuprobieren. Denn man kann die Wirkung vorab tatsächlich nicht immer abschätzen. Es ist schon irgendwie schwierig, dass sie nur über Polizeipräsenz signalisiert wird. Man könnte das auch anders andeuten, etwa mit einer temporären Gestaltung. Was man aber merkt, dass die Leute ganz selbstverständlich die Straße queren, das macht einen sehr entspannten Eindruck. Man könnte auch über einen Shared Space nachdenken. Also dass man eine gemeinsame Fläche für alle Verkehrsteilnehmer macht. Jeder muss auf jeden aufpassen und es regelt sich irgendwie von selbst. Das ist ein neues Verkehrskonzept: Man muss den Verkehr nicht immer sortieren und jedem seine Spur geben, sondern macht eine gemeinsame Fläche und legt die von der Gestaltung her so an, dass man von einer selbsterklärenden Straße oder einem selbsterklärenden Raum spricht. Jeder der Verkehrsteilnehmer weiß im Grundsatz, wie er sich zu verhalten hat. Eine große Fläche würde das dann über farbliche Markierungen oder über einen leichten Belagwechsel anzeigen. Und dann ist hier auf dem Platz eine ganz große Achse aufgebaut, zum Museum. Wenn man sich vorstellt, dass da oben ein Tunnel wäre und dass sich hier ein großer Shared Space nach oben begibt – das wäre ein großer Gewinn. Es wäre eine Umgestaltung des Platzes, aber wenn zum Beispiel in der Mitte keine Bordsteine wären, sondern alles eben, könnte man diesen grünen Mittelstreifen, der sehr prägend ist, beibehalten – ohne starke topografische Veränderungen.“