„Nur Christen zu helfen ist unchristlich“

„Nur Christen zu helfen ist unchristlich“

Pfarrer Mikuláš Vymětal protestiert gegen Islam-Hass und hilft Flüchtlingen. Von der Kirche wünscht er sich mehr Engagement gegen Populismus und Angstmacherei

13. 11. 2015 - Text: Corinna AntonInterview: Corinna Anton; Foto: Saša Uhlová

Mikuláš Vymětal ist im Stress. Gerade bereitet der Pfarrer der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder eine Demonstration vor, bei der die Teilnehmer ihre Solidarität mit den Flüchtlingen zum Ausdruck bringen wollen, die in Drahonice in den Hungerstreik getreten sind.  Der 44-Jährige vermittelt zwischen den Streikenden, mit denen er mehrmals täglich telefoniert, und den Journalisten, die sich nach deren Zustand erkundigen. Er trägt einen Anstecker mit der Aufschrift „Hate free“, auf dem Schreibtisch im Prager Büro liegt neben der Bibel ein Megafon. Lauter Protest ist Vymětals Spezialgebiet. Er betreut nicht nur eine Gemeinde in Beroun, sondern ist auch zuständig für Minderheiten und humanitäre Hilfe im ganzen Land. In dieser Funktion ist er oft dabei, wenn Menschen gegen Fremdenfeindlichkeit protestieren; er hilft Gegendemonstrationen zu organisieren, wenn Rechte gegen Roma hetzen, und engagiert sich für Flüchtlinge. Als einer von wenigen darf er Einrichtungen wie die in Bělá-Jezová besuchen.

Wie waren Ihre ersten Begegnungen mit den Flüchtlingen, die derzeit in Tschechien festgehalten werden?
Mikuláš Vymětal: Zuerst habe ich im August mit Freunden vor dem Lager in Bělá demonstriert. Wir haben aber keine Flüchtlinge persönlich gesehen. Ich habe die Verwaltung der Einrichtungen dann angeschrieben und die Erlaubnis bekommen, als Pfarrer Besuche zu machen. Ich fahre zusammen mit Unterstützern und Dolmetschern in die Lager, wir kochen gemeinsam Kaffee, auch ein Konzert mit tschechischen Musikern hat es schon gegeben. Am Ende haben die Flüchtlinge in ihren Muttersprachen, auf Urdu, Farsi und Arabisch gesungen, manche Lieder haben sie im Lager geschrieben. Ein Kehrvers lautete: „Bitte lassen Sie uns frei, lassen Sie uns nach Deutschland gehen.“

Wie geht es den Menschen, die in den Einrichtungen festgehalten werden?
Vymětal: Es wird sehr viel über die Familien gesprochen. Natürlich sind die Rechte der Kinder wichtig. Aber meine Erfahrungen zeigen, dass die Situation für die Männer, die allein sind, am schlimmsten ist. Sie können kaum Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Wir versuchen zu helfen, so gut es geht. Manchmal bete ich mit jemandem, einem habe ich eine Bibel gegeben, weil er danach gefragt hat. Ein anderer wünschte sich einen Koran, ihm habe ich einen Koran besorgt. Wir haben die Menschen am Anfang gefragt, was sie am dringendsten brauchen. Die meisten sagten Schuhe, Bücher in ihrer Muttersprache und Schokolade. Da wusste ich, dass ich keine Angst vor diesen Menschen haben muss.

Über die Einrichtung in Bělá wurde viel berichtet, auch in der „Prager Zeitung“ (Ohne Recht und Würde, Gedemütigt und ohne Schuhe). Hat sich die Lage dort mittlerweile gebessert?
Vymětal: Ja, es wurde viel repariert und einige Menschen wurden in eine andere Einrichtung verlegt. Am Anfang gab es nur eine Küche, die nicht alle versorgen konnte. Ich habe gesehen, wie die Männer zum Mittagessen eine Plastiktüte mit drei Stück Brot und etwas Käse bekamen. Das ist mit der Zeit besser geworden. Unter den Menschen, die dort arbeiten, gibt es einige, die wirklich sehr nett sind. Aber es gibt auch welche, die ihre Klienten als Hunde und Tiere und mit noch schlimmeren Ausdrücken beschimpfen. Ein Kollege von mir hat gesehen, wie ein Kind an den Haaren gezogen und auf Tschechisch angeschrien wurde. Ein Problem ist noch immer, dass viele, die dort arbeiten sehr schlecht Englisch sprechen. Innenminister Milan Chovanec konnte das bei seinem Besuch natürlich nicht kontrollieren, er spricht ja selbst nur Tschechisch.

Einige Flüchtlinge wurden aus Bělá nach Drahonice verlegt, wo jetzt etwa 240 Menschen untergebracht sind. Wie sieht es dort aus?
Vymětal: Bis jetzt haben wir über das Personal der Einrichtung viel Positives gehört. Man muss aber unterscheiden zwischen den Angestellten der Einrichtung auf der einen Seite und der Polizei und den privaten Wachdiensten auf der anderen.

Warum sind etwa 60 Flüchtlinge in Drahonice in den Hungerstreik getreten?
Vymětal: Sie fürchten sich davor, dass sie zurück in ihre Heimatländer geschickt werden, das ist in ihrem Fall der Irak. Die Menschen haben sehr große Angst vor der Terrormiliz Islamischer Staat, vor der sie geflüchtet sind. Die tschechischen Behörden sprechen in Rätseln. Weder die Flüchtlinge noch wir wissen, ob sie tatsächlich in den Irak abgeschoben werden sollen. Das Innenministerium will mit diesem Vorgehen vor allem deutlich zeigen, dass Flüchtlinge hier unerwünscht sind – diese Strategie von Minister Chovanec zeugt von Grausamkeit. Der zweite Grund für den Streik ist, dass die Menschen sehr lange in den Einrichtungen festgehalten werden. Sie bekommen Papiere, die sie aus Angst vor den Behörden unterschreiben. Bei manchen wird die Frist, wie lange sie in der Einrichtung bleiben müssen, immer wieder um 90 Tage verlängert. Andere bekommen einen Dolmetscher für Farsi zugeteilt, obwohl sie Urdu sprechen. Sie sind mit einer Vorstellung von Freiheit und Menschenrechten nach Europa gekommen. Jetzt erleben sie genau das Gegenteil.

Sie sprechen von Grausamkeit. Große Teile der Bevölkerung stimmen Politikern wie Chovanec zu oder schweigen zu seinem Vorgehen. Sind die Tschechen grausam gegenüber Flüchtlingen?
Vymětal: Das Thema schmerzt mich sehr und ich kann nicht eindeutig antworten. Die Menschen haben meistens Angst vor dem Unbekannten. Ich wohne im Prager Viertel Vinohrady, in einer multikulturellen Umgebung, in der Menschen aller Hautfarben und Religionen friedlich zusammenleben und die Kinder gemeinsam auf dem Spielplatz spielen. In meiner Gemeinde in Beroun ist die Situation eine andere. Dort gibt es keine Juden, kaum Ausländer. Die Menschen denken dort ganz anders. Am Rand der Republik ist es noch schlimmer. Dort haben die Menschen Angst vor Muslimen und deren Religion.

Wie geht man mit dieser Angst um?
Vymětal: Politiker, Intellektuelle und wir, die Kirchen, sollten die Angst bekämpfen. Aber sie – und damit meine ich auch die Kirchen – machen zu wenig. Stattdessen nutzen Extremisten die Angst für kurzfristige politische Gewinne – ich sage kurzfristig, weil es kein Gewinn ist, wenn wir der grausamste und dümmste Staat in der Europäischen Union sind. Extremisten gibt es in jedem Staat. Das Problem ist, dass bei uns einige Politiker, wie Innenminister Chovanec, denken und handeln wie Extremisten. Chovanec verhält sich wie ein kommunistischer Politiker. Er spricht sehr primitiv, seine wichtigsten Methoden sind Angst und Repression. Aber es gibt auch vernünftige Stimmen, wie Justizminister Robert Pelikán oder Menschenrechtsminister Jiří Dienstbier, und tschechische Freiwillige, die auf den Balkan fahren, um zu helfen. Außerdem erlebe ich als Pfarrer für Minderheiten viel Unterstützung. Ich muss mich also nicht schämen für das tschechische Volk.

Und für Ihren Präsidenten?
Vymětal: Am Anfang ist Miloš Zeman als Euro-Optimist aufgetreten und wollte ein Präsident für die „unteren zehn Millionen“ Tschechen sein. Da dachte ich, er wird sich für die Rechte von Roma und Arbeitslosen einsetzen. Aber er hat seine Versprechen nicht gehalten. Die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder ignoriert ihn, so gut es eben geht, zum Beispiel wenn wir eine Einladung von ihm bekommen. Ich glaube, das ist die beste Strategie.

Zurück zu den Kirchen: Warum protestieren tschechische Geistliche nicht lauter gegen Fremdenfeindlichkeit und Islam-Hass?
Vymětal: Die Kirchen sind nicht so stark wie in Deutschland. Einige wichtige Kirchenvorsteher kommen zu unseren Demonstrationen für Solidarität. Für den 17. November habe ich hochgestellte Persönlichkeiten eingeladen, der Vorsitzende des ökumenischen Rates zum Beispiel wird eine Rede halten. Andere haben Angst. Mit der katholischen Kirche habe ich sehr traurige Erfahrungen gemacht. Aber auch von ihrer Seite gibt es gute Erklärungen, die leider wenig beachtet wurden.  

Was halten Sie als evangelischer Pfarrer von der Idee, dass ein Land wie Tschechien vor allem Christen aufnehmen sollte?
Vymětal: Ich bin überzeugt, dass das eine ganz falsche Idee ist. Wenn sich jemand in Not befindet, sollte man ihm helfen, ganz gleich, welche Religion er hat. In der Bibel gibt es das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, der einem Juden hilft. Ich glaube, die Muslime sind die neuen Samariter. Sie haben einen sehr ähnlichen Glauben wie wir, deshalb haben wir Angst vor ihnen. Wir müssen aber den Unterschied zwischen den Religionen mit Barmherzigkeit überbrücken. Wir können Menschen in Not keine Bedingungen stellen, auch nicht, dass sie Christen sein und in unsere Kirchen kommen sollen. Der Glaube ist etwas Freies. Ich halte es für unmoralisch und unchristlich, nur Christen bei uns aufzunehmen.

Wie geht es nun weiter mit den Flüchtlingen, die in den Hungerstreik getreten sind?
Vymětal: In der Gruppe gibt es verschiedene Auffassungen. Manche sind extrem, sie haben sich selbst Verletzungen zugefügt oder versucht sich umzubringen. Die Wortführer wollen dagegen nur friedlich hungern.

Aber auch das kann gefährlich werden …
Vymětal: Ja. Einige sind schon zusammengebrochen. Aus Solidarität habe ich gestern auch einen Tag lang nichts gegessen. Ich bekam schnell Kopf- und Bauchschmerzen. Das war schon nach kurzer Zeit sehr unangenehm. Ich werde versuchen, die Flüchtlinge von einem Ketten-Fasten zu überzeugen, dann würde im Wechsel immer einer für 24 Stunden hungern. Ich jedenfalls werde nicht sterben vor Hunger, um Chovanec zu überzeugen, denn der Minister ist unbekehrbar.

Das klingt pessimistisch. Glauben Sie, dass Tschechien sich gegenüber Flüchtlingen irgendwann öffnen wird?
Vymětal: Ich glaube, dass der Anti-Islamismus und die politische Instrumentalisierung der Angst ihre Kraft verlieren werden. Das Thema wird langweilig werden. Die Frage ist nur, ob nach der Angst die Vernunft kommt – oder andere Ängste.

HELFER IM VISIER

Pfarrer Mikuláš Vymětal hat Mut zur Meinung gegen Populismus und Extremismus – und es damit nicht immer einfach mit den tschechischen Behörden. Bei den Demonstrationen gegen Hass und für Solidarität mit Flüchtlingen „nimmt die Polizei manchmal ein paar Menschen auf unserer Seite fest“, sagt der Prager, „manchmal auch mich“. Außerdem berichtet er vom Direktor der Diakonie der Böhmischen Brüderkirche, der plante, Flüchtlinge aufzunehmen. „Die Polizei warf ihm vor, Terrorismus zu unterstützen.“ Ähnliches habe einer der Helfer vom Prager Hauptbahnhof erlebt, der einen Flüchtling in seiner Wohnung übernachten ließ. Dass Vymětal regelmäßig Drohungen per SMS bekommt, interessiert die Polizei dagegen nicht. Die Kirche der Böhmischen Brüder habe bereits „ein, zwei Mal“ um Personenschutz für den Pfarrer gebeten. „Aber die Polizei sagt, ich bin nicht so sehr bedroht.“   (ca)