Keine Grenzgänger

Keine Grenzgänger

Hirsche im Böhmerwald wagen sich nicht auf bayerisches Territorium

6. 2. 2014 - Text: Corinna AntonText: ca/čtk; Foto: Marek Drha

Wer entlang der Grenze durch den Böhmerwald wandert, der ist sich nicht immer im Klaren darüber, ob er sich gerade auf der deutschen oder tschechischen Seite befindet. Wo einst der Eiserne Vorhang verlief, können Menschen heute vielerorts über die Grenze wandern, mit dem Rad fahren oder mit den Skiern laufen, ohne es überhaupt zu bemerken. Anders geht es den Hirschen: Obwohl es längst keinen elektrischen Stacheldraht mehr gibt, wissen sowohl die deutschen als auch die tschechischen Tiere noch immer genau, wo die Staatsgrenze verläuft – und wagen sich kaum auf die jeweils andere Seite.

Das geht aus einer mehrjährigen telemetrischen Untersuchung des Nationalparks Böhmerwald hervor, für die Wissenschaftler Tiere auf beiden Seiten der Grenze mit Sendern ausstatteten, um deren Bewegungen zu verfolgen. „Die Hirsche auf der tschechischen Seite des Böhmerwalds gehen genau bis zu der Stelle, wo früher der elektrische Stacheldraht stand. Genauso weit gehen die deutschen Hirsche“, erklärte bei der Veröffentlichung der Ergebnisse Pavel Šustr, der das Forschungsprojekt leitete. Die deutschen Hirsche würden sich zum Weiden zwar ein Stück auf tschechisches Hoheitsgebiet begeben, die tschechischen aber niemals auf deutsches, weil der Stacheldraht auf tschechischer Seite weit vor der eigentlichen Grenze verlief, so der Zoologe Šustr. Unter seiner Leitung statteten Forscher von 2005 bis 2011 im Böhmerwald etwa 50 Hirsche und 60 Rehe mit einem Halsband aus, das den Wissenschaftlern über einen Satelliten regelmäßig Daten über den Aufenthaltsort der Tiere lieferte. Auf der deutschen Seite der Grenze wurden ebenfalls 50 Hirsche beobachtet, außerdem 150 Rehe. Die Tiere trugen die Halsbänder etwa drei Jahre, in denen per Satellit stündlich die GPS-Koordinaten ihres Aufenthaltsortes bestimmt wurden. Außerdem registrierte das Halsband alle fünf Minuten ihre Aktivitäten.

Treue zum Territorium
Dass die Hirsche, die für die Untersuchung und Auswertung auf Namen wie Richard, Petr, Lojza oder Beran getauft wurden, die Grenze auch heute noch kennen, führt Šustr darauf zurück, dass die jungen Hirsche sich an familiäre Gewohnheiten halten: „Die Treue zu einem Territorium kommt daher, dass sie ihr erstes Lebensjahr bei ihrer Mutter verbringen, die ihnen zeigt, wo ihr Territorium verläuft. Dieses eignen sich dann auch die meisten Jungtiere an.“ Ganz undurchlässig ist die Grenze allerdings auch für Hirsche nicht.

Das beweisen zum Beispiel die Messdaten von Vincek: Er hat immer wieder die Grenze überquert. „Er geht jedes Jahr nach Deutschland, jedes Jahr an den selben Ort“, sagte Šustr gegenüber der „Prager Zeitung“. Eine Erklärung dafür könnte Vinceks familiärer Hintergrund sein. Möglicherweise sei eine deutsche Hirschkuh seine Mutter, meint der Zoologe. „Aber Beweise dafür haben wir nicht.“

Besondere Aufmerksamkeit erregte bei den Forschern auch Radek, der zur Brunftzeit die weiteste Strecke zurücklegte, um zu seiner Hirschkuh zu gelangen. Insgesamt zeigten die Beobachtungen, dass ein männlicher Hirsch im Böhmerwald durchschnittlich ein etwa 60 Quadratkilometer großes Territorium benötigt und mehrere Jahre nacheinander dasselbe Gebiet besiedelt. Die Hirschpopulation besteht Šustr zufolge sowohl aus sesshaften Tieren als auch aus sogenannten „Saisonmigranten“, die den Böhmerwald im Winter verlassen. So kommt es, dass dort im Sommer etwa 1.800 europäische Hirsche leben, im Winter nur halb so viele.

Anders als bei den Hirschen zeigte sich bei den Rehen keine Auswirkung des Eisernen Vorhangs. Sie benötigen in der Regel ohnehin ein deutlich kleineres Territorium als Hirsche. Wenn sie eine größere Strecke zurücklegen, dann meist nur, um sich ein neues Revier zu suchen. In diesem Fall nehmen sie Šustr zufolge keine Rücksicht auf die Staatsgrenze.

Lebensraum für viele Arten
Von ihren Beobachtungen erhoffen sich die Wissenschaftler, dass sie besser verstehen, wie sich die Tiere verhalten und wie sie durch ihre Bewegungen die Struktur des Waldes beeinflussen.

Laut Šustr mögen Hirsche zwar offene Landschaften sowie Gebiete, die von einem Sturm oder dem Borkenkäfer geschädigt sind, sie verursachen jedoch in den wertvollsten Teilen des Naturschutzparks keine großen Schäden durch Verbiss. Im Sommer bevorzugen sie Kräuter, im Winter ziehen sie sich aus den höchsten Lagen zurück.

Šustr weist auch auf die Bedeutung des Böhmerwalds als Lebensraum für Hirsche, Rehe und andere Säugetiere hin: „Der Raum für große Tiere, vor allem für Säugetiere, nimmt in Europa ab“, schreibt er in seinem gerade erschienenen Buch „Jelenovití na Šumavě“ („Hirsche im Böhmerwald“), in dem er die Forschungsergebnisse präsentiert. Der Böhmerwald sei gemeinsam mit dem Bayerischen Wald eines der letzten Territorien in Mitteleuropa, wo solche Tiere noch genügend Platz fänden.