Kapitalismuskritik im Flipperautomaten

Kapitalismuskritik im Flipperautomaten

Mit „Gasoline Bill“ von René Pollesch holt das Prager Theaterfestival deutscher Sprache avantgardistisches Polit-Schauspiel an die Moldau

19. 11. 2014 - Text: Stefan WelzelText: Stefan Welzel; Foto: theater.cz

Für manch einen Besucher von Stücken des Regisseurs René Pollesch fällt die halbe Theaterwelt auseinander, wenn er mit den eigenwilligen Merkmalen dieser sonderbaren Inszenierungen konfrontiert wird. Da sitzt oder steht zum Beispiel der Souffleur inmitten der Szenerie und hilft den Schauspielern bei Pannen aus der Patsche. Oder Dialoge brechen von der einen zur anderen Sekunde ab, um Discomusik zu weichen, zu der die Protagonisten sogleich wie wild zu tanzen beginnen. Am 1. Dezember kann sich nun auch das tschechische Publikum auf die irrwitzigen Reflexionen in Polleschs Universum freuen, wenn dessen Stück „Gasoline Bill“ den krönenden Abschluss des diesjährigen Theaterfestivals deutscher Sprache im „Divadlo na Vinohradech“ („Theater in den Weinbergen“) bildet.

Pollesches Theater bedeutet konstante Dekonstruktion des Alltäglichen und kritische Infragestellung marktwirtschaftlicher Mechanismen. Der 1962 in Hessen geborene Pollesch studierte Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen, wo er das seltene Privileg genoss, sich bei Gastdozenten wie Heiner Müller oder George Tabori weiterzubilden. Gerade vom widerspenstigen Intellekt Müllers schien Pollesch für die eigene „Handschrift“ einiges abgeschaut zu haben. Doch im Unterschied zu Müller war nicht der Realsozialismus sein Gegenstand der Reibung, sondern der entfesselte Turbokapitalismus nach dem Fall der Mauer.

Wenn sich Schauspieler wie in „Gasoline Bill“ zur Musik von Jamiroquai oder den Beastie Boys im glitzernden Cowboy-Kostüm auf dem Boden wälzen und in atemberaubender Geschwindigkeit stakkatoartig politische Diskurse ausspucken, weiß man, dass man in einem Pollesch-Stück gelandet ist. Der inzwischen 52-Jährige produzierte das Schauspiel 2013 für die Münchner Kammerspiele. Zentraler Gegenstand ist – einmal mehr – der immerwährende Konflikt des Individuums mit der gnadenlosen Realität des Wertschöpfungsprozesses. Die Menschen sind eingesperrt in eine Gesellschaft, die von ihnen dauerhafte Anpassung verlangt. Wer kritisch denkt, stößt an Grenzen des Verständnisses. Wer gegen den Mainstream handelt, gerät schnell in Widerspruch mit der Welt und sich selbst. Der Bogen, den Pollesch dabei spannt, beginnt bei Sartres Existenzphilosophie, nährt sich aus der Psychoanalyse Freuds und franst im abgedroschenen „Trash Talk“ des 21. Jahrhunderts aus. Wer hier als Zuschauer inhaltlich noch am Ball bleiben möchte, hat schon verloren. Auf der Bühne geht es zu wie in einem überdimensionalen Flipperautomaten. Zynismus ist Trumpf.

Ende der neunziger Jahre erregte der kritische Kopf Pollesch mit seiner Art des Theaterschaffens erstmals das breite öffentliche Interesse, als er die Stückreihe „Java in a box 1 – 10“ im schweizerischen Luzern auf die Bühne brachte. Die Kritiker hoben Pollesch in kürzester Zeit in den Autoren-olymp, er wurde auf einmal in einem Atemzug mit Christoph Schlingensief oder Christoph Marthaler genannt. Nur das konservative Innerschweizer Publikum konnte eher weniger mit den gänzlich unkonventionellen Werken anfangen. Doch dem Aufstieg in die erste Riege der Regisseure deutschsprachigen Autorentheaters sollte dies kein Abbruch tun.

Es folgten Engagements am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg sowie an der Volksbühne in Berlin, wo er von 2001 bis 2007 die Prater-Bühne leitete. Internationale Anerkennung erhielt er in Form des renommierten Mühlheimer Dramatikerpreises, des österreichischen Nestroy-Theaterpreises sowie mehrere Einladungen zum Berliner Theatertreffen, was der ultimative Ritterschlag für jeden Regisseur aus dem deutschsprachigen Raum darstellt. Seit 2012 ist Pollesch Mitglied der Berliner Akademie der Künste. Im gleichen Jahr begann er regelmäßig für die Münchner Kammerspiele zu inszenieren. Hier hießen seine Stücke „Ping Pong d’amour“ oder „Eure ganz großen Themen sind weg!“.

Es gibt Momente, wo man Letzteres auch für „Gasoline Bill“ befürchtet. Denn anders als in vielen Werken zuvor geht es Pollesch ordentlich heiter an, den üblichen Tiefgang und die intellektuellen Inhalte muss man zunächst fein herausfiltern. Dank den vier hervorragenden Schauspielern Katja Bürkle, Sandra Hüller, Benny Claessens und Kristof Van Boven driftet dieses Ideensammelsurium aber nie ins Derbe ab. Für die Thüringerin Sandra Hüller (bekannt aus Filmrollen in „Finsterworld“ oder „Polizeiruf 110“) ist die Zusammenarbeit mit Pollesch theatertechnisches Neuland, welches sie gekonnt durchstreift.

Am Ende bleiben Sätze hängen wie „Ich habe mit Greenpeace zwei Delfine gerettet und werde immer trauriger“. Sie destillieren Polleschs Hauptinformation wie kurze Blitzlichter heraus und senden sie ans Unterbewusstsein des Betrachters. Es geht um den sinnlosen Kampf des vom Gewissen geplagten Menschengeschlechts im Spannungsfeld zwischen Selbstverwirklichung und Selbstzerfleischung. Es ist dem Prager Theaterpublikum wärmstens ans Herz gelegt, diesem diabolisch anmutenden Reinigungsprozess beizuwohnen.

„Gasoline Bill“, Divadlo na Vinohradech, Montag, 1. Dezember, 20 Uhr, www.theater.cz