Im Vorhof zur Hölle

Im Vorhof zur Hölle

Vor 70 Jahren fuhren die letzten Transporte von Theresienstadt nach Auschwitz

16. 10. 2014 - Text: Helmut KöserText: Helmut Köser; Foto: Stanislaw Mucha/Deutsches Bundesarchiv

Der 16. Oktober ist kein Gedenktag. Vor 70 Jahren, am 16. Oktober 1944, fuhr die jüdische Kulturelite Europas in den Tod. Die Fahrt ging von Theresienstadt nach Auschwitz. In dem Transport befanden sich die Komponisten Hans Krása, Gideon Klein, Viktor Ullmann, Pavel Haas, der Dirigent Rafael Schächter, der Schriftsteller Peter Kien sowie viele andere Künstler.

Im Herbst 1944 war die Invasion der West-Alliierten am Rhein zum Stillstand gekommen. Unter Ausnutzung aller verfügbaren Reserven gelang der deutschen Wehrmacht eine Stabilisierung der Westfront. Im Osten konnte die sowjetische Sommeroffensive zurückgeschlagen werden. Zwar gelang es, das Vernichtungslager Maj­danek zu befreien, insgesamt gesehen erfolgte die Befreiung der Vernichtungslager jedoch erst im Winter 1944/45 und im Frühjahr 1945. Die Hoffnung der Gefangenen in den Konzentrationslagern auf ein rasches Kriegsende erfüllte sich nicht. Die SS nutzte die militärische Lage aus, um die Vernichtungskapazitäten zu erhöhen. Pausenlos fuhren die Transporte in den Osten.

In der Vernichtungslogik und -logistik der Nationalsozialisten kam der nordböhmischen Festungsstadt Theresienstadt eine besondere Bedeutung zu. Theresienstadt war ausersehen, Juden aus ganz Europa zu sammeln und von dort in die Vernichtungslager zu schicken. Die zynische Propaganda erklärte Theresienstadt 1943 zum „Jüdischen Siedlungsgebiet“. Mit einer Verschönerungsaktion wurde die Stadt als „Kurort“ hergerichtet. In einem Dokumentarfilm unter dem populären Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ wurde dem Publikum Normalität vorgegaukelt.

Unter der Leitung von Rafael Schächter wurde in Theresienstadt Verdis „Requiem“ mehrmals aufgeführt, so auch vor einer Kommission des Internationalen Roten Kreuzes unter der Leitung des Schweizers Maurice Rossel, der sich allzu leicht von der nationalsozialistischen Propagandaschau täuschen ließ. Nach jeder Aufführung wurde ein Teil der Mitwirkenden in das Vernichtungslager Auschwitz transportiert und dort ermordet.

Theresienstadt war nicht nur der Vorhof zur Hölle, sondern auch ein Ort des geistigen Widerstandes, der als einzigartiges und wohl einmaliges Phänomen in die Geschichte eingegangen ist. Die Bedeutung der Kultur in der Grenzsituation zwischen Leben und Tod ist das eigentlich Bleibende am „Phänomen Theresienstadt“. Viktor Ullmann hat das dortige Musikleben mit dem Satz „In der Musik liegt der Wille zum Leben“ auf den Punkt gebracht.

In den überfüllten Unterkünften starben zeitweise täglich bis zu 200 Menschen an Erschöpfung, Krankheit und Unterernährung. Die erstaunliche künstlerische Produktivität vieler Gefangener ist darauf zurückzuführen, dass es im tristen Ghettoalltag ein fast unstillbares Bedürfnis nach Musik, Literatur und Theater gab. Diese hohe Akzeptanz und Begeisterung war für die eingesperrten Künstler ein großer Ansporn. Es entstanden bekannte Werke wie die Kinderoper „Brundibár“ von Hans Krása, von Viktor Ullmann die Oper „Der Kaiser von Atlantis“ sowie seine Sinfonien Nummer eins und zwei. Wenig Beachtung finden bis heute die Zeichnungen und Grafiken der Maler Bedřich Fritta, Leo Haas, Otto Ungar und Karel Fleischmann.

In Theresienstadt erklang der letzte Akkord des Zusammenlebens von Tschechen, Juden und Deutschen. Die europäische Kultur wurde um ein Erbe bereichert, das erst jetzt entdeckt und anerkannt wird. Insbesondere die Musik erlangte ein künstlerisches Niveau, das ohne die Kultursymbiose wohl kaum erreicht worden wäre. In einer enthumanisierten Welt , die vom Diktat der Gewalt beherrscht wurde, war Theresienstadt der einzige Ort in Europa, wo sich die geistige Kraft gegen die Gewalt behaupten konnte. Zwar war es den Nationalsozialisten gelungen, die Juden nahezu vollständig zu vernichten. „Was Ihnen jedoch nicht gelang und nie gelingen konnte, war die Vernichtung des Gedankens dessen, was am Menschen menschlich ist“. So formulierte es der spätere Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie, Karel Ančerl, der Theresienstadt und Auschwitz überlebt hat.
Der Autor lehrte als apl. Professor Politikwissenschaft und ist Gründer der Brücke/Most-Stiftung.