„Heimat kann man nicht gegen Geld tauschen“

„Heimat kann man nicht gegen Geld tauschen“

Förderlimits sollen die Natur schützen und den Menschen im nordböhmischen Kohlerevier Sicherheit geben. Jetzt stehen sie auf der Kippe

4. 2. 2015 - Text: Ivan DramlitschText: Ivan Dramlitsch; Foto: Adam Polák

Jarmila Křížová ist frustriert und erschöpft. „Ich habe in Dolní Jiřetín schon einmal mein Heim verloren, und ich will nicht, dass das nochmal passiert, seit 30 Jahren führen wir diesen Kampf, das ermüdet. Wenn man sein Haus verliert, verliert man auch seine Heimat, Beziehungen, die Gemeinschaft, das ist für die Psyche extrem belastend.“

So wie ihr geht es den meisten Bewohnern von Horní Jiřetín (Obergeorgenthal). Sie haben Angst, ihre Häuser und ihre Heimat zu verlieren. Das könnte passieren, wenn das Kabinett in Prag entscheidet, die Braunkohle-Förderlimits aufzuheben. Das Schicksal des Ortes liegt damit in den Händen der tschechischen Regierung.
Horní Jiřetín liegt in der Nähe von Litvínov (Leutensdorf) und Most (Brüx), nahe der deutschen Grenze, am Rande des nordböhmischen Braunkohlereviers. Kohle wird hier bereits seit dem 19. Jahrhundert per Tagebau gefördert. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts fiel ihm in der Region eine Fläche von etwa 1.100 Quadratkilometer zum Opfer. Besonders extrem wütete der Braunkohletagebau in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts; insgesamt 106 Orte – einschließlich der historischen Stadt Most – mussten den monströsen Schaufelradbaggern weichen.

Langfristige Perspektiven
Die Folgen dieser Praxis waren für Mensch und Natur verheerend. Durch die Schadstoff- und Feinstaubbelastung litten Kinder und Erwachsene in der Region verstärkt an Atemwegserkrankungen, Nierenleiden, Allergien und Hautkrankheiten. Die Quote der Kindersterblichkeit und der Krebserkrankungen war um einiges höher als im Landesdurchschnitt, die Lebenserwartung weitaus geringer. Die Folgen für die Natur waren für jeden, der in den achtziger und neunziger Jahren durch die Gegend fuhr, deutlich sichtbar: Die einst dicht bewaldeten Hänge des Erzgebirges sahen aus wie Mondlandschaften; über 50 Prozent des Baumbestandes ging zwischen 1975 und 1990 durch Emissionen und sauren Regen verloren.

Diese Negativfolgen des extensiven Braunkohleabbaus waren der Grund, warum die damalige Regierung Pithart nach der Wende 1991 per Beschluss Förderlimits einführte. Damit wurden Linien festgelegt, die die geografischen Grenzen des Bergbaus definierten. Dadurch sollten die Umwelt und Menschen geschont und den Einwohnern potentiell bedrohter Orte eine langfristige sichere Perspektive gegeben werden. Und obwohl diese Limits 2008 von der Regierung Topolánek noch einmal bestätigt wurden, gibt es etwa seit Beginn des neuen Jahrtausends immer wieder Versuche, die Förderlimits zu durchbrechen.

men sind es vor allem die Gewerkschaften, die sich für eine Aufhebung stark machen. Erst Ende vergangener Woche organisierten sie eine Kundgebung von rund 1.000 Bergleuten vor dem Wirtschaftsministerium. Sollten die Limits eingehalten werden, droht 2018 tatsächlich etwa 800 Kumpeln der Arbeitsplatzverlust – wohingegen bei einer kompletten Aufhebung der Fördergrenzen ein Bergbaubetrieb bis ins ferne Jahr 2120 gesichert wäre. Allerdings, so errechneten Befürworter der Fördergrenzen, würden bei einer Ausweitung des Bergbaus viel mehr Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, nämlich insgesamt knapp 5.000, so viele Leute gehen in dem Gebiet zur Arbeit.

Die Politik ist indes gespalten. Für eine komplette Aufhebung der Limits sind lediglich die Kommunisten. Auch Staatspräsident Zeman ist für eine Erweiterung des Bergbaus, er bezeichnete dies als „kleineres Übel“. Die Vorsitzenden der Koalitionsparteien äußern sich vorsichtig, es schimmert aber eine Tendenz zur weitgehenden Erhaltung der Fördergrenzen durch. Der zuständige Wirtschaftsminister Jan Mládek (Sozialdemokraten) hat unterdessen vier Varianten vorgelegt: Einhaltung der Limits, zwei Versionen einer teilweisen Aufhebung, ein komplettes Kippen der Fördergrenzen. Zwei dieser Varianten rechnen mit einem teilweisen oder gesamten Abriss von Horní Jiřetín.

Entscheidung im März
Beim Treffen der Sozialpartner am Montag konnte keine Einigung erzielt werden. Mládek, der selbst Variante drei, also eine Erweiterung der Fördergrenzen mit einem teilweisen Abriss von Horní Jiřetín favorisiert, wird dem Kabinett diese Optionen vorlegen, im März soll die Regierung eine Entscheidung treffen.

Im 2.300-Seelen-Ort Horní Jiřetín steigt unterdessen die Nervosität. „Es gibt Spekulanten, die Häuser aufkaufen und dort dann Asoziale einquartieren. Neben denen will keiner wohnen, die Leute verkaufendann“, sagt Hedvíka Šebková. Auch ihr Haus würde abgerissen, wenn sich der Minister mit seiner favorisierten „Variante drei“ durchsetzt. Dass sie dafür entschädigt werden würde, ist kein Trost: „Klar, die können bezahlen. Aber wer gibt mir den Wald hinterm Haus, meine Erinnerungen, meine Nachbarn, die ich kenne. Das sind meine Wurzeln, meine Heimat, die kann man nicht gegen Geld eintauschen.“ Der Bürgermeister des Ortes, Vladimír Buřt, Mitglied der Grünen, hat deshalb angekündigt, sich mit allen Mitteln für den Erhalt des Ortes einzusetzen: „Wenn alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft sein sollten, werden wir mit unseren Körpern kämpfen.“