Geteiltes Land

Geteiltes Land

Mehr Arme, mehr Arbeitslose, weniger Wirtschaftskraft: Tschechiens Norden wird von anderen Regionen abgehängt

10. 6. 2015 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: Petr Štefek

Gut 31.000 Euro hat ein Durchschnittsprager im Jahr 2013 erwirtschaftet. Damit zählt der Großraum um die tschechische Hauptstadt zu den zehn europäischen Regionen mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt. Zwischen Île de France und Oberbayern liegt er auf Platz neun der kürzlich veröffentlichten Liste des europäischen Statistikamtes Eurostat. Sehr viel weiter hinten befinden sich dagegen die übrigen Regionen der Republik: Im Nordwesten des Landes beträgt das BIP pro Kopf gerade einmal 11.300 Euro, im Nordosten 12.300. Das ist nicht einmal halb so viel wie im EU-Schnitt.

Dass eine Hauptstadt wirtschaftlich erfolgreicher ist als andere Landesteile, ist nichts Ungewöhnliches. In Tschechien aber zeichnet sich neben dem Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie auch ein immer deutlicher ausgeprägter Nord-Süd-Kontrast ab. „Wenn wir uns das Bild der tschechischen Gesellschaft ansehen, dann haben wir zwei Staaten“, behauptete kürzlich der Soziologe Ivan Gabal. „In der Mitte und im Süden des Landes entwickelt sich die Wirtschaft sehr dynamisch, der Lebensstandard steigt. Im Norden haben wir strukturelle Probleme und Armut.“

Gabals Beratungsgesellschaft GAC hat im Auftrag des Arbeitsministeriums eine Analyse zum Thema soziale Ausgrenzung erstellt, deren Ergebnisse sie Ende Mai präsentierte: Die Zahl der Ghettos in Tschechien ist demnach seit 2006 von 310 auf 606 gestiegen, die der dort lebenden Menschen von 80.000 auf 115.000. Die meisten Armenviertel liegen an der nördlichen Grenze der Republik: Im Kreis Ústí nad Labem wohnen bis zu 38.500 Menschen in Ghettos, im Mährisch-Schlesischen Kreis sind es 23.000.

Fehler im Bildungssystem
Die Verschlechterung führen die Autoren der Studie auf die Wirtschaftskrise zurück. Entscheidender sei jedoch, dass Jugendliche aus den Armenvierteln kaum Chancen auf einen gesellschaftlichen Aufstieg haben. Das Bildungssystem verhindere, dass die Kinder einen höheren Abschluss erlangen, so sänken auch ihre Chancen auf einen Beruf mit Perspektive. „Sie haben eine schlechtere Bildung als ihre Eltern. Das ist nicht das Modell einer Indus­trienation, das ist das Modell eines Entwicklungslandes“, sagt Gabal. Der Analyse zufolge haben drei Viertel der Ghettobewohner im erwerbsfähigen Alter nur Grundschulbildung.

Eine positive Entwicklung sieht der Soziologe, der für die christdemokratische KDU-ČSL im Abgeordnetenhaus sitzt, dagegen in Städten und Gemeinden. Sie versuchten nicht mehr, Menschen in Not auszuquartieren, sondern bemühten sich um Lösungen der Probleme, meint Gabal. Auch die 2008 gegründete Regierungsagentur für soziale Integration habe sich bewährt. Dort, wo sie als Berater der örtlichen Entscheidungsträger tätig war, habe sich die Situation gebessert, so der Hauptautor der Analyse Karel Čada. Beispiele dafür seien Obrnice im Bezirk Most, Kadaň bei Chomutov oder Krásná Lípa im Schluckenauer Zipfel.

Wo Kommunen mit der staatlichen Agentur zusammenarbeiten, geht es meist auch darum, Beschäftigungsmöglichkeiten für die Bewohner der Armenviertel zu schaffen, von denen im Durchschnitt 80 bis 85 Prozent keinen Job haben. Zum Vergleich: Die Quote für ganz Tschechien lag im Mai dieses Jahres bei 6,4 Prozent – so niedrig wie seit Juni 2009 nicht mehr. Aber auch bei den neuesten Arbeitslosenzahlen, die am Montag veröffentlicht wurden, zeigt sich ein Gefälle zwischen dem Norden und dem Rest des Landes: Während in Teilen Prags nur 2,9 und im südböhmischen Prachatice gerade einmal 3,4 Prozent ohne Job sind, werden die höchsten Werte im nordböhmischen Most (12,1 Prozent) und in Ústí nad Labem (11,5 Prozent) registriert, gefolgt von Karviná (11,4 Prozent) und Bruntál (11,1 Prozent) im Mährisch-Schlesischen Kreis.