Germanisiert und entheimatet

Germanisiert und entheimatet

Karl Vitovec ist ein NS-Opfer ohne Status. Ein entwurzelter Tscheche auf der Suche nach Anerkennung

31. 10. 2013 - Text: Maarten GeuzendamText: Maarten Geuzendam; Foto: Karl Vitovec als Baby 1932 mit seiner Familie (privat)

Die ersten Jahre des Zweiten Weltkriegs. Das Tausendjährige Reich wächst und wächst und es werden immer mehr Soldaten und Verwaltungsbeamte gebraucht. Die in den eroberten Gebieten ansässigen Deutschen reichen nicht aus, um den Bedarf zu decken. So wählte das Protektoratsregime tschechische Kinder aus, die es für „germanisierbar“ hielt, zum Beispiel, weil sie deutsche Vorfahren hatten. „Bei rassisch guten Leuten mit schlechter Gesinnung bleibt nichts anderes übrig, als sie im Reich in einer rein deutschen Umgebung anzusiedeln und umzuerziehen. Oder, wenn es nicht klappt, sie an die Mauer zu stellen“, sagte Reinhard Heydrich in einer Rede vor Besatzungsbeamten 1941, als er seinen Dienst als Reichsprotektor in Prag antrat. Man erhoffte sich führertreue Soldaten und Beamte. Heydrichs Rede lässt ahnen, mit welcher Brutalität die Nazis dabei vorgingen.

Acht Jahre alt war Karl Vitovec de Gereben, Jahrgang 1932, Sohn eines tschechischen Ingenieurs und einer Mutter mit deutschen Vorfahren. Die Familie lebte im südböhmischen Tábor. Formal sei kein Zwang im Spiel gewesen, aber den Eltern wurde nahegelegt, so Vitovec, den jungen Karl in die deutsche Schule zu schicken. Bei Ablehnung war mit Konsequenzen zu rechnen. „Meiner Mutter hat man angedroht, ihr die Konzession für ihr Lebensmittelgeschäft zu entziehen. Und meinem Vater drohte, seine Stelle zu verlieren”, erzählt Vitovec. Die Eltern gaben nach. 1942 wurde der auf Tschechisch noch Karel genannte Vitovec zu einem führertreuen Ehepaar in Leipzig gebracht. Hier sollte er ein Deutscher werden.

Vitovec wurde krank vor Heimweh, im Laufe des Jahres 1942 wurde er zurück zu den Eltern nach Tábor geschickt. Anfang 1943, berichtet Vitovec, erhielt die Familie wieder Besuch vom zuständigen Gebietshauptmann, der sich davon überzeugte, dass Karel sich erholt hatte. Wenig später kam er in eine deutsche Heimschule in Tábor, wo er, umringt von Söhnen deutscher Offiziere und Verwaltungsbeamter, eingedeutscht und für den Kriegseinsatz vorbereitet werden sollte. ‚Was uns nicht umbringt, macht uns stark‘, so lautete das Motto, nach dem die Schüler frontfähig gemacht wurden.

Uniform bestimmt Schicksal
Wie viele tschechische Kinder in dieser Kriegsphase zur Zwangsgermanisierung ausgewählt wurden, ist bis heute nicht bekannt, bestätigt Radka Šustrová, Historikerin an der Gedenkstätte Lidice und Autorin des 2012 erschienenen Buchs „Pod ochranou protektorátu“ („Unter dem Schutz des Protektorats“), in dem sie die Schicksale deutscher Kinder im Protektorat Böhmen und Mähren erforscht. Kinder wie Karel Vitovec, mit tschechischer Staatsangehörigkeit und tschechischen Eltern, wurden in Tschechien noch nicht zum Forschungsgegenstand und sind im Zuge der Kriegsgeschehnisse unterm Radar verschwunden.

Laut Vitovec fand der Schulalltag in Tábor weitgehend abgeschottet von der Außenwelt statt. Der Krieg machte sich jedoch bald bemerkbar. Die Zahl der Luftangriffe nahm zu, sowohl von englischer als auch von russischer Seite. Eine Flak-Anlage kam auf das Schuldach, die Schüler, bekleidet mit Uniformen der Hitlerjugend, wurden zum Herantragen der Munition eingesetzt. „Die haben wir mit dem Speiseaufzug aus dem Keller hochgeholt. Aber gerade als die Flak anfing zu schießen, sind wir zum Ziel von Luftangriffen geworden“, erinnert sich Vitovec.

Der Kriegseinsatz und die deutsche Uniform sollten sein weiteres Schicksal bestimmen. Anfang 1945 wurde Vitovec bei einem Angriff von herumfliegenden Trümmerteilen an der Schulter verletzt und drei Wochen lang in einer nahe gelegenen Kaserne verpflegt. Im Frühjahr 1945 schickte man die Jungen von Tábor, darunter der 13-jährige Vitovec, zur Verteidigung der Moldaubrücke nach Budweis. Kurz darauf wurden sie von tschechischen Truppen festgenommen. Man brachte sie in ein Sammellager und transportierte sie schließlich per Zug nach Bayern.

Ein Unterschied zwischen tschechischen und deutschen Volksstürmlern wurde dabei nicht gemacht. „Da hätte mal einer von der tschechoslowakischen Regierung eine Ausnahme machen können und sagen müssen, der Kleine kann ja nichts dafür“, sagt Vitovec. Eine Rehabilitierung aber geschah nicht. Vor die Wahl gestellt, in der Tschechoslowakei zu bleiben und dort möglichen Repressalien ausgesetzt zu sein, ging die Mutter mit den beiden Geschwistern noch im Frühjahr nach Deutschland. Der Vater stieß 1947, nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft in Jugoslawien, dazu. In einem bayerischen Flüchtlingslager trafen sie sich wieder.

Die Familie begann ein neues Leben in Westdeutschland. Karl Vitovec wohnt heute in Grefath am Niederrhein. Erst spät begann er, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Vor knapp drei Jahren wandte sich Vitovec zum ersten Mal an organisierte Opfergruppen und Volksvertreter. Doch Zwangsgermanisierte wurden in den existierenden Entschädigungsprogrammen nicht als Opfergruppe berücksichtigt.

„Allgemeine Kriegsfolge“
Eine Petition an die Bundesregierung im vergangenen Jahr lehnte das Bundesfinanzministerium mit der Begründung ab, es handele sich hier lediglich um eine „Kriegsfolge“. Eventuelle Entschädigungen seien, wenn nachweisbare Folgeschäden vorlägen, in existierenden Sozialmaßnahmen zu suchen. Damit war die Sache für Berlin erledigt. Eine Verharmlosung, befand die Bundestagsfraktion der Linken, die sich der Causa annahm und sich in einer Anfrage Anfang dieses Jahres erneut an die Bundesregierung wandte. Wiederum ohne Erfolg.

„Bei der Opfergruppe der Zwangsgermanisierten handelt es sich um eine relativ unsichtbare Gruppe, die Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Schicksalen umfasst“, sagt Uta Gerlant, Vorstandsreferentin der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Die Stiftung organisierte die Auszahlung der Entschädigung an ehemalige NS-Zwangsarbeiter. Über die Zahl der Betroffenen gibt es nur Mutmaßungen: zwischen 20.000 und 200.000. Die meisten von ihnen stammen aus Polen. Zur ehemaligen Tschechoslowakei gibt es überhaupt keine Schätzungen.

Die Vorgehensweise von Karl Vitovec bestätigt dies. Kontakte zu Schicksalsgenossen hat er nicht. Die Kontaktaufnahme mit der Sudetendeutschen Landsmannschaft blieb wegen fehlender Gemeinsamkeiten mit dem gebürtigen Tschechen ergebnislos. Und so versucht er weiter, aber mit schwindender Hoffnung, auf sich aufmerksam zu machen. Keine Lobby, keine Stimme, so besagt es die Praxis in der gegenwärtigen Politik. Dieses Prinzip scheint sich auch hier zu bewahrheiten, denn für eine Gesetzesänderung, einer Bedingung für Entschädigungsprogramme, fehlt im Bundestag derzeit der politische Wille.