Experten fordern Pflegeversicherung

Experten fordern Pflegeversicherung

Die tschechische Gesellschaft altert rasant. Die Politik allerdings reagiert nur zögerlich

19. 1. 2016 - Text: Ivan DramlitschText: Ivan Dramlitsch; Foto: APZ

Es wird ein Umbruch in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit sein, und die Demografen erwarten ihn für das Jahr 2050: In der Mitte des Jahrhunderts, also in gerade einmal 35 Jahren, werden auf der Welt zum ersten Mal mehr Senioren als unter 14-Jährige leben. Besonders kritisch wird die Situation in den Industrieländern sein, und Tschechien bildet da keine Ausnahme. Im Gegenteil: Wie rasant die Menschen in Böhmen und Mähren altern, belegen aktuelle Zahlen der tschechischen Statistiker. Noch im Jahre 2000 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung bei den Männern 71,8 Jahre, Frauen wurden 78,6 Jahre alt. 15 Jahre später konnten beide Geschlechter deutlich „zulegen“ – Männer werden derzeit im Schnitt rund 76 Jahre alt, Frauen 82. Schon in zehn Jahren, so die Prognose, wird es in Tschechien 600.000 Über-80-Jährige geben, 2050 deutlich über eine Million, also mehr als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung.

Vor den schwerwiegenden Folgen dieser Entwicklung für die tschechische Gesellschaft warnen Gesundheits- und Sozialexperten schon seit Jahren. Das Land sei auf die alternde Gesellschaft nicht vorbereitet, es gebe keinerlei Konzept für ein Pflegesystem, so der Vorwurf an die Politik. Diese setze zwar ständig neue Kommissionen ein, die das Problem angehen sollen, Ergebnisse liegen jedoch keine vor. „Seit 20 Jahren passiert nichts. Für die Politik stellt dieses Problem keine Priorität dar“, beklagt Petr Fiala, Vizevorsitzender des Verbandes böhmischer und mährischer Krankenhäuser.

Endstation Pflegeheim
Deutliche Kritik am derzeitigen System übt auch der Chefarzt der Geriatrie am Krankenhaus Pardubice, Ivo Bureš: „Das A und O muss es doch sein, das Leben der Menschen so zu gestalten, dass diese dort leben können, wo sie möchten, nicht sie zu heilen. Das jetzige System produziert chronisch Kranke und Bettlägerige.“ Dem Mediziner zufolge fehle es an aktiven Unterstützungs- und Reha-Maßnahmen, statt dessen endeten die meisten Patienten in den sogenannten „Heilanstalten für langfristig Erkrankte“, tschechisch LDN („Léčebna dlouhodobě nemocných“) – im Prinzip „Sterbehospize“ für kranke Alte ohne Heilungsperspektive.

Nach Expertenmeinung benötigt Tschechien dringend eine Pflegereform, die ein ganzheitliches System ambulanter Gesundheits-, Sozial- und Pflegedienste etabliert, das es alten Menschen ermöglicht, bis ins hohe Alter selbständig und zu Hause leben zu können. „Wir wollen das Kranke die Pflege erhalten, die sie verdienen und die sie in heimischer Umgebung bekommen können. Und nicht, dass sie in irgendwelchen Heimen enden. Viele Menschen müssten dort gar nicht sein“, sagt Altenmediziner Bureš. Grundvoraussetzung dafür ist jedoch die Einführung einer Pflegeversicherung, wie sie in anderen europäischen Staaten, etwa in Deutschland, bereits funktioniert.

Konzept gesucht
Hauptstolpersteine sind die Finanzierung und die damit eng verbundenen politischen Kompetenzfragen. Das Pflegesystem berührt nämlich zwei Ressortbereiche: den des Gesundheitsministeriums und den des Sozialministeriums. Doch anstatt in dieser wichtigen Frage zusammenzuarbeiten, geschieht angeblich das Gegenteil. „Das Sozialministerium will für keine Gesundheitsdienste aufkommen, weder in sozialen noch in Gesundheitseinrichtungen. Und die Krankenversicherungen weigern sich, soziale Pflegedienste zu bezahlen. Unter dieser Zweigleisigkeit leiden vor allem die Patienten. Sozial- und Gesundheitssystem müssten miteinander verknüpft werden, stattdessen leben wir in einem Land, wo sich Sozialminister und Gesundheitsminister darüber streiten, wer was zu bezahlen hat“, bemängelt Petr Fiala vom Böhmisch-Mährischen Verband der Krankenhäuser.

Laut EU-Empfehlung sollte in die Langzeitpflege ein bis zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts investiert werden. In Tschechien wären dies 45 beziehungsweise 90 Milliarden Kronen (etwa 3,3 Milliarden Euro). Laut Fiala werden jedoch pro Jahr lediglich 14 bis 16,5 Milliarden ausgegeben, also rund 0,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts. „Unser Bruttoinlandprodukt kann man aber zum Beispiel nicht mit dem deutschen vergleichen. Wenn wir uns die absoluten Beträge ansehen und sie dann nach jeweiliger Kaufkraft umrechnen, sehen wir, dass wir ein Viertel bis ein Zehntel von dem ausgeben, was andere Länder in die Hand nehmen“, sagt Fiala.

Experten fordern deshalb die Einführung einer Pflegeversicherung nach deutschem Vorbild. Dabei sollten Gelder anteilig aus der Kranken- und der Sozialversicherung geschöpft werden. Vorläufige Berechnungen sehen dabei einen Betrag von 40 bis 50 Milliarden Kronen vor. Laut der sozialdemokratischen Sozialministerin Michaela Marksová arbeite bereits seit März 2014 einer ressortübergreifende Arbeitsgruppe an einem entsprechenden Konzept. „Im September wollen wir einen gemeinsamen Gesetzesvorschlag einbringen, der genau diese Art von Gesundheits- und Sozialpflege definieren und regeln soll“, so Marksová.