Ein erfüllter Lebenstraum auf hoher See

Ein erfüllter Lebenstraum auf hoher See

Bereits als Kind wünschte sich Daniel Rosecký ein eigenes Segelschiff. Nun bereist er mit der „La Grace“ unter tschechischer Flagge die Weltmeere – obwohl sie vor vier Jahren auf Grund lief

15. 6. 2016 - Text: Helge HommersText: Helge Hommers; Fotos: Privat

Es ist der 26. Oktober 2012, kurz nach vier Uhr morgens. Daniel Rosecký liegt zu Hause im südböhmischen Bechyně in seinem Bett und schläft. Plötzlich schreckt er auf. Sein Handy klingelt. Für einen Moment will er es ignorieren. Doch dann blickt er auf das Display, öffnet die SMS und liest: „Wir sind gestrandet. Ruf an!“

Rosecký glaubt nicht, was er da sieht. Trotzdem wählt er die Nummer des Absenders und erfährt, dass die Nachricht wahr ist: Sein Lebenstraum, das Segel­schulschiff „La Grace“, ist vor der spanischen Stadt Marbella auf Grund gelaufen. Der Tscheche macht das seines Erachtens einzig Richtige – und geht wieder schlafen. „Was hätte ich unternehmen sollen? Ich war über 2.000 Kilometer entfernt. Das musste die Crew vor Ort regeln“, sagt er rückblickend, schüttelt den Kopf und lächelt.

Die Leidenschaft fürs Segeln hat der heute 45-Jährige von seinem Vater und Großvater geerbt. Beide zog es in jeder freien Minute ans Wasser, auch wenn Tschechien der Zugang zu einem Ozean fehlt. „Sie sind nie richtig zur See gefahren. Aber in einem früheren Leben muss einer unserer Vorfahren auf dem Meer gewesen sein. Deswegen haben wir die See in unseren Genen“, vermutet Rosecký.

Den Großteil seiner Kindheit verbrachte er damit, Modellschiffe zusammenzubauen, die er mit seinem Vater auf dem Gartenteich schwimmen ließ. Als er seinen ersten Fotoapparat geschenkt bekam, lichtete er nicht den Schenkenden oder ein zufälliges Motiv ab. Stattdessen rannte er in den Garten, ließ sein Lieblingsschiff über den Teich fahren und hielt den Moment fest. Den Schnappschuss hat er bis heute aufgehoben.

Konstrukteur Daniel Rosecký bei der Arbeit in der ägyptischen Werft

Vor knapp 16 Jahren stieß Rosecký auf die Homepage des Seglers Josef Dvorský. Dieser hatte das Foto einer Brigg – ein zweimastiges Segelschiff, das vor allem zu Schulungszwecken genutzt wird – hochgeladen und mit den Worten „Eines Tages möchte ich selbst so ein Schiff besitzen“ untertitelt. Rosecký spürte, dass er auf einen Gleichgesinnten gestoßen war und kommentierte: „Ich auch.“ Der Beginn einer großen Freundschaft, die die beiden auf zahlreichen Segelreisen über die Ozeane führte.

Der Traum, eines Tages auf einem eigenem, nach traditioneller Handwerkskunst gebauten Segelschiff in See zu stechen, blieb über die Jahre bestehen. Irgendwann sagte Dvorský: „Wir schaffen das.“ Und Rosecký, der sich als den „berechnenden“ und Dvorský als den „wahnsinnigen“ Teil des Duos bezeichnet, erwiderte: „Möglich ist es – wenn du das Geld auftreibst.“

„Sie hielten uns für verrückt“
In Europa oder den USA ein Schiff bauen zu lassen, ist für Privatpersonen nahezu unbezahlbar. Dvorský, der seinen Urlaub oft in Ägypten verbrachte, wusste dass Boote dort für weniger Geld hergestellt werden. Aber selbst dafür wäre ein Kredit nötig gewesen. Allerdings winkte jeder Bankangestellte, den die beiden um finanzielle Unterstützung baten, lachend ab. „Die meinten, dass wir verrückt seien“, erinnert sich Rosecký. Dann lernten sie den ebenfalls leidenschaftlichen Segler Petr Tanner kennen. Ihm gelang es, mit den notwendigen Kontakten die Finanzierung zu sichern.

Doch bis der Bau begann, sollte noch eine Weile vergehen. Ro­secký, der als Maschinenbauer die Konstruktion des Segelschiffs übernahm, vertiefte sich über Monate in Fachliteratur. Er studierte die Arbeiten des Schweden Fredrik Chapman, der im 18. Jahrhundert als erster Baumeister Schiffe auf Grundlage mathematischer Berechnungen plante. Nach eben diesen Aufzeichnungen schuf Ro­secký die „La Grace“.

Wer als Kadett reist, muss mit anpacken und in fast 25 Metern Höhe die Segel setzen.

Der Name stammt vom Schiff des böhmischen Kaufmanns Augustin Heřman. Dieser kam Anfang des 17. Jahrhunderts in Prag zur Welt. Bereits in jungen Jahren wanderte er nach Nordamerika aus, wo er als Entdecker und Landkartenzeichner bekannt wurde. Seine Herkunft vergaß Heřman nicht; er benannte sowohl eine Stadt als auch einen Fluss nach der böhmischen Heimat. „Er ist einer von nur ganz wenigen Tschechen, die zur See gefahren sind und somit ein großes Vorbild für uns“, betont Rosecký.

Mit den Bauplänen im Gepäck reisten er und Dvorský nach Ägypten und fanden schnell eine Werft – die allerdings noch nie ein Segelschiff gebaut hatte. Der Chefkonstrukteur arbeitete zudem ausschließlich nach Augenmaß. Als die Tschechen ihm mitteilten, dass kein vergleichbares Schiff existiere, an dem er sich orientieren könne, verlangte er ein Modell in der Größe eines Spielzeugschiffs. Damit begannen die ägyptischen Experten Ende 2008 ihre Arbeit – traditionell und mit Werkzeugen, die für europäische Verhältnisse völlig veraltet waren.

Mehr als 300 freiwillige Helfer
Zeitgleich beteiligten sich in Tschechien zahlreiche Helfer an der Produktion der technischen Geräte für das Schiffs­innere. Mehr als 300 Freiwillige waren es, die sowohl bei den Vorarbeiten daheim als auch bei der Instandsetzung in Ägypten unentgeltlich anpackten. Für jeden Tag, den die Verwandten, Freunde und Fremden mit am Schiff arbeiteten, bekamen sie einen kostenlosen Tag Segeln versprochen. „Einige haben aber so viel für uns getan, die werden gar nicht so lange leben können, wie sie noch mit uns fahren dürften“, erzählt Rosecký.

Nach fast zwei Jahren wurde die „La Grace“ feierlich am Suez­kanal vom Stapel gelassen. Als Heimathafen ist Prag eingetragen, auch wenn das Segelschulschiff vorwiegend bei Portoferraio, der Hauptstadt der italienischen Insel Elba, vor Anker liegt. Unter tschechischer Flagge segelt das Schiff vorwiegend durch das Mittelmeer und das Rote Meer, umfährt aber auch beispielsweise schottische Gewässer oder die norwegische Küste. Unerreichbar ist für die „La Grace“ dagegen der Heimathafen in Prag, weil die Elbe mit stellenweise nur anderthalb Metern zu flach ist.

„Prag in Sicht“ wird man auf dem Segelschulschiff wohl niemals rufen.

Obwohl Rosecký Miteigen­tümer und Konstrukteur seines wahr gewordenen Lebens­traums ist, geht er nur selten an Bord. „Wenn es hochkommt, eine Woche im Jahr“, schätzt er. Dennoch ist das Segelschulschiff ständig im Einsatz. Eine vierköpfige Besatzung – der Kapitän, der Ingenieur, der Bootsmann und der Koch – unternimmt jeweils für knapp eine Woche eine Fahrt mit 24 bis 30 Kadetten und Reisenden. Diese lernen das Treiben an Bord eines Schiffes aus dem 18. Jahrhundert kennen. Während die Reisenden einen entspannten Urlaub an Bord genießen, müssen die Kadetten mit anpacken. Sie helfen in der Küche, putzen das Deck und übernehmen Aufgaben, die „nicht so beliebt sind“, wie Rosecký betont. Dafür reisen sie wesentlich günstiger.

„Piratenjagd in Somalia“
Rosecký und seine Mitstreiter sind auf die Einnahmen dringend angewiesen. Denn die Kosten für Reparaturen und Neuanschaffungen sind enorm. Allein der Motor, der fast jedes Jahr ausgewechselt werden muss, verschlingt mehr als anderthalb Millionen Kronen. Dank ihm kommt das Schiff anders als im 18. Jahrhundert auch voran, wenn mal wochenlang Flaute herrscht. Ausgaben fallen zudem für Gegenstände an, die Rostspuren aufweisen, und für Unmengen an Tauen. Aber auch die vier Kanonen an Bord müssen instand gehalten werden. Sie wirken so echt, dass ein Gast auf „Piratenjagd in Somalia“ gehen wollte, wie Rosecký sich erinnert. Für Gefechte sind sie nicht ausgelegt, dienen aber als Blickfang und produzieren bei Saluten „einen Höllenlärm.“

Als die „La Grace“ vor vier Jahren in Marbella auf Grund lief und Rosecký ausgeschlafen hatte, setzte er sich mit einem Anwalt in Verbindung. Dvorský hingegen fuhr nach Spanien. Dort wurde ihm mitgeteilt, dass in der Nacht zuvor ein Sturm aufgezogen war und das Schiff unbemerkt in Richtung Küste trieb, wo es auf einer Sandbank zum Stillstand kam. „Der damalige Kapitän war erst eine Woche an Bord und zu leichtsinnig. So hat er die Nachtwachen vergessen und viel zu nah an der Küste geankert“, resümiert Rosecký. 14 Tage und zwei weitere Stürme lang befand sich die „La Grace“ in Sichtweite der verzweifelten und an Land ausharrenden Crew. Doch diese konnte und durfte nicht eingreifen, da die Genehmigung der Versicherung fehlte. Als das Schiff endlich geborgen wurde, war nahezu die komplette Inneneinrichtung zerstört.

Die Kanonen auf der "La Grace" sind nur Attrappen.

Rosecký brachte seinen Lebenstraum in eine Werft nahe Gibraltar, wo sich heimische Schiffsbauer und erneut zahlreiche Freiwillige an die Reparatur machten. Nach neun Monaten war die „La Grace“ wieder seetauglich – zumindest größtenteils. Denn die Reparaturen dauern auch fast vier Jahre nach dem Unglück noch an.

Direkt nach der „Wiedergeburt“ nahm die „La Grace“ an der Langstreckenregatta „Tall Ships’ Races“ teil. Das zweiwöchige Rennen, bei dem über 50 Teilnehmer starteten, führte das Segelschulschiff von Barcelona ins italienische La Spezia. Dort kamen die Tschechen als Erste an – noch vor so namhaften Konkurrenten wie der Alexander von Humboldt, dem weltbekannten Segelschiff aus der Beck’s-Werbung. Auch Rosecký war während des kräfteraubenden Wettstreits an Bord. Der Sieg war für ihn nur Nebensache. In erster Linie freute ihn die Tatsache, dass sich die „La Grace“ nach dem zwischenzeitlichen Untergang wieder auf hoher See befand – und sein Lebenstraum weiterhin über die Meere fahren kann.


Das Segelschulschiff „La Grace“
Die mehr als 25 Meter hohe und 32,3 Meter lange „La Grace“ ist die Nachbildung eines Segelschiffs aus dem 18. Jahrhundert. Ihre Bauweise knüpft an Originalpläne des schwedischen Schiffsbauers Fredrik Chapman an, der vor 250 Jahren erstmals Schiffe nach mathematischen Berechnungen konstruierte. Obwohl ihr Tiefgang von 2,8 Meter für die Gewässer Tschechiens zu hoch ist, fährt die „La Grace“ unter tschechischer Flagge und mit Prag als eingetragenem Heimathafen. Wer den Alltag an Bord eines Segelschiffs aus dem 18. Jahrhundert erleben möchte, kann für eine Woche oder länger mit der „La Grace“ über die Weltmeere segeln. Die günstigsten Fahrten werden ab 6400 CZK (240 Euro) angeboten. www.lagrace.cz