Die Stadt als Wohnzimmer

Die Stadt als Wohnzimmer

In den Straßen Prags kann man seit dieser Woche auch Schach spielen

20. 8. 2014 - Text: Martin NejezchlebaText: Martin Nejezchleba; Foto: Daniel Nagelstutz

Montagnachmittag kurz nach zwei Uhr auf dem Hauptplatz des Prager Stadtteils Karlín. Oberbürgermeister Tomáš Hudeček (TOP 09) lächelt verschmitzt und rückt mit dem weißen Springer aus. Sein Schachgegner: Ondřej Kobza, vollbärtiger Besitzer mehrerer Prager In-Kneipen und Kämpfer für die Belebung des öffentlichen Raums. Bis zum Schachmatt wurde die Partie nicht gespielt, das Stadtoberhaupt befindet sich im Wahlkampf und hat Termindruck. Für die öffentlichen Schachbretter, die auf Initiative von Kobza zunächst an sechs Orten in Prag aufgestellt werden, findet er trotzdem Zeit und lobende Worte: „Das Leben in den Prager Straßen machen sie etwas weniger schwarz-weiß“, meint Hudeček und dankt dem Initiator.

Kobza hat sich für sein Projekt in anderen europäischen Städten inspirieren lassen, in Kopenhagen, Paris und auf dem Balkan. „Hier kann man sich hinsetzen, sich wie im eigenen Wohnzimmer fühlen“, sagte Kobza bei der Einweihung des Schachbretts auf dem Friedensplatz (Náměstí Míru) in Vino­hrady. Den luftigen Betontisch mit zwei Hockern hat ein Freund des Kneipiers gestaltet. Insgesamt beliefen sich die Kosten für die ersten sechs Tische auf 30.000 Kronen (knapp 1.100 Euro). Unterstützt wurde die Initiative vom Rathaus der Hauptstadt sowie von den Stadt­bezirken zwei und acht. Nicht alle Schachtische bestehen aus Beton: Auf dem Karlsplatz (Karlovo náměstí) ist das Brett auf eine ausrangierte Schulbank aufgemalt. Weitere Schachbretter sollen in den Parks Havlíčkovy sady und Riegrovy sady sowie auf der Kampa-Insel entstehen.

Erfolgsstory von der Straße
Einen Tag nach der Einweihung scheint die Sonne und zur Mittagszeit ist ein junges Paar in eine Partie auf dem Friedensplatz vertieft. Eine Rentnerin nähert sich und rät zu einem Zug mit der weißen Dame. Kob­zas Konzept scheint aufzugehen, die Schachbretter bringen die Prager zusammen. Dass er den richtigen Riecher für das Beleben der Stadt hat, hatte der Gastronom bereits mit seinem Projekt „Klaviere auf der Straße“ („Piána na ulici“) bewiesen.

Vor einem Jahr stellte er eine Handvoll ausrangierter Klaviere an öffentlichen Orten wie dem Hauptbahnhof oder auf dem Friedensplatz auf. Die Idee hat inzwischen zahlreiche Nachahmer gefunden. 20 weitere Städte sind der Prager Initiative gefolgt. Ein Video eines Straßenpolizisten, der während seines Dienstes auf einem der Klaviere an der Philosophischen Fakultät spielt, wurde zum Hit auf der Videoplattform YouTube. Nachdem kürzlich auch der Prager Flughafen ein Piano aufstellen ließ, tauchte vor knapp zwei Wochen das Video eines Libanesen auf, der sich die Wartezeit am Gate mit einer virtuosen Variation auf „Für Elise“ vertreibt. Das Video haben bereits 9,5 Millionen Menschen gesehen.

Schachbretter waren nur eine von vielen möglichen Installationen, die Kobza vorschwebten. Er dachte zum Beispiel auch an Tischtennisplatten, Hängematten oder öffentliche Grillplätze. An Schach gefalle ihm, dass es alle Altersklassen anspricht. Ob er nicht Angst habe, dass die Figuren bald verschwinden? „Mal sehen“, sagt Kobza, der von den tschechischen Medien als „Kulturaktivist“ bezeichnet wird. Abends werden die Figuren und die Schachuhren weggeräumt. Am Friedensplatz bringt sie jeden Morgen ein Freiwilliger, der auch das dortige Klavier aus seiner Schutzverkleidung befreit. Wenn die Figuren verschwinden, müssten sie in Zukunft eben die Spieler selbst mitbringen.

Schachbretter für alle
Kulturaktivist Kobza will die Tschechen mit seinen Projekten zu einem natürlicheren Umgang mit der Stadt anregen – und die Anonymität durchbrechen. „Ich hoffe, dass sich das verbreitet und als Beispiel dafür steht, wie man als Individuum den öffentlichen Raum gestalten kann“, sagt er. Auf seinem Facebook-Profil ruft er deshalb Rathäuser ebenso wie die Bürger auf, die designten Betonschachbretter in weitere Städte zu holen. Ähnlich wie bei den Klavieren bietet er seine Hilfe bei der Umsetzung an.

Kobza hat auch schon den nächsten Plan auf den Weg gebracht. Unter anderem auf dem Karlsplatz möchte er noch im Herbst eine Jukebox aufstellen, an der sich Passanten die Werke tschechischer Dichter anhören können. Wenn alles nach Plan verläuft, könnten auch die Bewohner mancher deutscher Städte in den Genuss von Poesie aus der Jukebox kommen. Kobza erklärte vor mehreren Monaten, dass er darüber bereits mit den Tschechischen Zentren in Deutschland verhandle.