Die Frau am Fenster

Die Frau am Fenster

Alle schauen zu ihr, aber niemand sieht sie. Marie Termerová ist die einzige Bewohnerin des Masaryk-Bahnhofs 

28. 8. 2013 - Text: Nancy WaldmannText und Foto: Nancy Waldmann

Am liebsten sitzt Marie Termerová im Korridor, am Fenster zum Hof. Zum Bahnhof. Sie beobachtet die Menschen, die unten stehen bleiben, sie sieht in ihre entzückten Gesichter, in die Augen, die zu ihr nach oben blicken und sie nicht sehen, weil sie hinter den Blumen verschwindet. Sie verfolgt, wie die Passanten ihre Fotoapparate zücken. Es blitzt. Einen Wimpernschlag lang trifft Termerová das Licht, der Goldzahn funkelt und man stellt sich vor wie ihre Lippen, rosa wie die Blumen vorm Fenster, ein Lächeln bilden. Unzählige Touristen haben ihr Fenster in dem seitlichen Innenhof am Masarykovo nádraží fotografiert – Chinesen, Amerikaner, Vietnamesen, Japaner, Deutsche. Sie selbst ist darauf nie zu sehen.

Termerová, 62, wohnt seit 26 Jahren im Masaryk-Bahnhof; im Nordflügel, der noch unrenoviert ist, über dem Durchgang zur Metro-Linie B, wo jeden Tag Tausende Menschen umsteigen. Warmes Licht fällt durch das Glasdach in das quadratische Foyer, oben zieren alte klassizistische Holzbalustraden das Gewölbe. Von den Wänden blättert die Farbe ab. Unten eine Pizzeria, eine Bahnhofsspelunke, der Kiosk, wo sich Termerová die Zeitung kauft. Darüber befinden sich die drei quadratischen Fenster mit den weißen Spitzengardinen, hinter denen der Korridor zur Küche verläuft. In der Mitte sticht das Blumenfenster hervor, dessen Flügel nach außen aufgehen. Zwischen März und November steht es immer offen. Die prächtigen grünen Asparagusse wachsen wie drei Vollbärte bis zum gelben Metro-Schild. Dahinter leuchtet ein Blumenstrauß. Vielleicht ist man an einem Ort wie dem Bahnhof einfach empfänglicher für Bilder von Geborgenheit. Dieses Fenster ist der Inbegriff von „pohodička“ und „klídeček“ („Frieden“ und „Ruhe“), der tschechischen Vorstellung von Zuhausesein.

Das Fernsehen war da

Das Innere der Wohnung ist die Fortsetzung davon. In der Küche hängen Kochlöffel an der Wand als seien sie für ein Stillleben arrangiert. Man hört nicht, dass man im Bahnhof ist. Keine quietschenden Züge, keine Durchsagen. Nur im Schlafzimmer rattert die Straßenbahn von der Havlíčkova-Straße her. Auf dem Tisch stehen frisch gebackene „chlebíčky“. Termerová erwartet gleich Besuch. In der Schrankwand im Wohnzimmer sind Hundertschaften von Porzellanfiguren ausgestellt. Auf dem gemachten Bett im Schlafzimmer sitzt eine Puppe, die anderen wachen über dem Kopfteil. „Das ist eben mein Hobby“, sagt sie. Basteln, schneidern – es sich schön machen.

Den Namen Termerová findet man nicht am Klingelschild und sie würde auch nicht öffnen. Sagt sie. Sobald man sie aber auf ihr Fenster anspricht, leuchten die Augen. Und sie lässt die Neugierigen in die Wohnung. Mit ein bisschen Glück begegnet man ihr, wenn sie gerade das Haus verlässt, um zur Arbeit zu gehen – Termerová arbeitet beim Zoll. Oder, um den Zug nach Klánovice zu nehmen. Da liegt ihr Mann begraben. Jindřich Termer war Eisenbahner. Er arbeitete in der Güterabfertigung und war Gewerkschaftsvorsitzender. 1987 bekam er die Dienstwohnung und die Termers zogen in den Bahnhof, der damals noch  „Praha Střed“ (Prag Mitte) hieß. Zwei Töchter wuchsen hier auf. Die Wohnung war in schlechtem Zustand, eine Küche habe es zunächst nicht gegeben, erzählt Termerová. Sie richteten sich ein, Heimeligkeit hielt Einzug und wurde bald bekannt. Noch vor der Revolution suchten Journalisten von „Rudé právo“ die Frau hinter dem Fenster auf, damals erschien sie auf Schwarz-Weiß-Fotos in der Zeitung. Andere Zeitungen kamen, auch im Tschechischen Fernsehen war Termerová schon. Ihre Arbeitskollegen stoßen sie dann jedes Mal an: „Du und dein Fenster.“

Nach dem Tod ihres Mannes vor sechs Jahren wäre Termerová beinah umgezogen, die Vier-Zimmer-Wohnung ist zu groß für sie. Ohnehin ist es möglich, dass die Tschechische Bahn im Zuge der Umbaupläne für den denkmalgeschützten Bahnhof diesen Gebäudeteil in absehbarer Zeit sanieren wird. Im Haus wohnt inzwischen niemand mehr außer Termerová. Nur einige Bahn-Angestellte sieht man hier ab und zu, wenn sie in einer Unterkunft bis zum nächsten Schichtwechsel übernachten. Die Tschechische Bahn, die Termerová die Wohnung vermietet, bot ihr damals übrigens Ersatz an. Aber das war weit draußen am Stadtrand. Da blieb sie lieber zuhause am Masaryk-Bahnhof, wo sie alle Eisenbahner, die „nádražáci”, beim Namen kennt.