Die Brücke am Pöhlbach

Die Brücke am Pöhlbach

Vejprty und Bärenstein trennen nur wenige Schritte – und eine Staatsgrenze. Seit zehn Jahren ist der Übergang zwischen Böhmen und Sachsen wieder geöffnet. Einen Herzinfarkt sollte man lieber auf der deutschen Seite bekommen

3. 9. 2015 - Text: Corinna AntonText und Foto: Corinna Anton

 

Es war einmal lebensgefährlich, diese Grenze zu überqueren. Und trotzdem war es so einfach. Man musste nur wissen, wo im Pöhlbach die Steine lagen, auf die man steigen konnte. Dann führten wenige Schritte durch flaches Gewässer von Vejprty (Weipert) nach Bärenstein, von Böhmen nach Sachsen, von der Tschechoslowakei in die Sowjetische Besatzungszone. Harry Lasch kannte die Stellen im Fluss. Er war zwölf Jahre alt und der Krieg gerade zu Ende gegangen. Seine Eltern hatten eine Nähmaschine von Vejprty nach Bärenstein gebracht, nun sollte er über die Grenze, um der Tante Bescheid zu geben. „Plötzlich habe ich zwei Grenzer gesehen. Zu dieser Zeit haben sie schon scharf geschossen. Ich bin nur noch gerannt“, erzählt er 70 Jahre später.

Wer die beiden Orte heute vom 898 Meter hohen Bärenstein auf der sächsischen Seite des Erzgebirges betrachtet, der sieht eine einzige Stadt mit Kirchturm und Schornsteinen meist stillgelegter Fabriken. Nicht zu erkennen ist die Grenze, die fast so alt ist wie die Städte selbst. Um das Jahr 1400 sei eine Ansiedlung in Bärenstein erstmals erwähnt worden, erfährt man auf einer Tafel am Grenzübergang auf Deutsch und Tschechisch, und weiter: „1413 tauschte Fritz von Schönburg, Herr zum Hassenstein, das damals böhmische Lehen Schlettau gegen drei sächsische Dörfer und 840 böhmische Groschen. Es entstand die noch heute gültige Pöhlbachgrenze.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Übergang geschlossen und erst im August 1968 für kurze Zeit geöffnet – damit Panzer aus der DDR in die Tschechoslowakei rollen konnten, um mit den anderen Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling gewaltsam zu beenden. In friedlicher Absicht überquerten Fußgänger den Pöhlbach erstmals wieder in den neunziger Jahren. Seit 2005 ist der Grenzübergang auch für Autos wieder geöffnet.

Wo die großen Steine im Bach liegen, wissen Lydia, Melanie und Alex nicht. Warum auch, die 13-Jährigen aus Bärenstein könnten einfach über die Brücke spazieren, wenn sie nach Tschechien wollten. Machen sie aber nicht. „Ohne Pass kommt man nicht rüber“, meint Alex. Sein Vater habe ihm gesagt, dass es 3.000 Euro Strafe koste, wenn man ohne Dokumente erwischt werde. „Einmal bin ich aus Versehen rüber gerannt. Es hat zwar niemand gemerkt, aber das war mir trotzdem eine Lehre.“ Ein paar Tschechen in ihrem Alter kennen die Kinder – vom Kindergarten und aus der Schule. „Die meisten sprechen sehr gut Deutsch“, erzählt Melanie. Sie und ihre Freunde auf der sächsischen Seite können die Sprache der Nachbarn nicht. „Nur Dobrý den, das würden wir noch hinbekommen“, sagt Alex.

Eine oder zwei Städte? Die Grenze zwischen Vejprty und Bärenstein scheint verschwunden zu sein.

Jenseits der Grenze bestätigt Bürgermeisterin Jitka Gavdunová zum Teil, was die deutschen Teenager über das Leben in der Doppelstadt sagen. Zwar weiß sie nicht, ob es tatsächlich 3.000 Euro sind; aber die Ausweispflicht sei vor allem für die Kinder ein Problem. Auf dem Spielplatz in Bärenstein, wenige Schritte von der Grenze entfernt, treffe man deswegen keine tschechischen Jungen und Mädchen. Und auch bei Veranstaltungen beider Städte stelle die Grenze eine Hürde dar. Mit Millionen-Zuschüssen von der Europäischen Union ist in den vergangenen Jahren am Grenzübergang die „Gemeinsame Mitte“ entstanden, einschließlich Infozentrum und Platz für deutsch-tschechische Feste. Aber wenn ein Händler aus Vejprty seine Lebkuchen bei einem solchen Fest auf der sächsischen Seite verkaufen möchte, sagt Gavdunová, dann brauche er eine besondere Genehmigung – deshalb bleibe jeder auf seinem Staatsgebiet.

Jeden Tag auf Dienstreise
Mit enormem bürokratischem Aufwand sei es auch verbunden, eine tschechische Mitarbeiterin der Stadt Vejprty im gemeinsamen Infozentrum in Bärenstein zu beschäftigen. „Es ist, als ob sie jeden Tag auf Dienstreise gehen würde.“

Wo die Angestellte aus Tschechien zum Arbeiten hinfährt, sind zwei Seniorinnen seit 40 Jahren zuhause. Am Sonntagnachmittag sitzen sie im Hof vor ihrer Haustür und schauen auf den Übergang nach Vejprty. Jahrzehntelang haben sie auf eine Grenze geblickt, die mit Stacheldraht gesichert war. Jetzt haben sie die „Gemeinsame Mitte“ im Blick. „Vor allem abends wird der Platz gut angenommen“, erzählen die Frauen, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen wollen.

„Besonders drüben ist was los, die haben ja mehr Kinder als wir.“ In Bärenstein dagegen sei es in den vergangenen Jahren „sehr, sehr ruhig“ geworden. „Früher hatten wir einen Bäcker, einen Fleischer und viele Fabriken. Jetzt gibt es nichts mehr. Die jungen Leute müssen wegziehen, weil sie keine Arbeit im Ort finden.“ Aktiv sei aber der Seniorenclub, sagen die Damen, geboren 1934 und 1925. Vor dem Krieg habe es manchmal Tumulte an der Grenze gegeben, erinnert sich die ältere der beiden Frauen. Einmal habe sie eine Schießerei gehört. Als Kinder seien sie aber auch zum Baden nach Weipert gefahren. „Ein wunderschönes Schwimmbad hatten wir da.“ Heute überqueren sie die Grenze selten. Höchstens mal zum Einkaufen im Travel Free Shop. „Aber vieles ist drüben ja teurer. Deswegen kommen eher die Tschechen zu uns.“

Zweisprachige Aufschrift an einem Eisenbahnwaggon im Stadtzentrum von Vejprty

Auch die Bürgermeisterin von Vejprty fährt nach Deutschland, wenn sie etwas aus dem Supermarkt braucht. Knödel, Apfelmus, Gurken und Rote Bete besorgt sie lieber in Sachsen, dort seien die Lebensmittel besser, weil die deutschen Kontrollen strenger seien, glaubt sie. Joghurt und Wurst kauft sie trotzdem in Tschechien – weil es ihr dort besser schmeckt. In Deutschland holt sie Kaffeesahne und Katzenfutter, das sei günstiger, obwohl die Krone seit Monaten schwach ist. „Es ist ein großer Nachteil für uns, dass wir noch immer nicht den Euro haben“, sagt Gavdunová. Zwar könne man in Vejprty überall mit Euro zahlen. Sie kennt aber kein Geschäft in Bärenstein, das auch Kronen akzeptiert. Wie viele andere Tschechen hat die Bürgermeisterin deshalb immer beides im Geldbeutel. „Eine Wechselstube gibt es im Ort nicht, dazu müssen wir nach Chomutov oder Kadaň fahren.“ Die andere Möglichkeit sei, bei den Vietnamesen am Grenzübergang zu tauschen, bei denen viele Deutsche günstigen Tabak kauften. „Aber ich weiß gar nicht, ob man das überhaupt darf.“

Dass es keine Arbeit gebe, hört Gavdunová auch von den Bürgern auf ihrer Seite. Doch die Klagen seien unbegründet, meint die Bürgermeisterin der liberal-konservativen Bürgerdemokraten (ODS). Die Arbeit gebe es zwar nicht direkt in Vejprty, aber in der Region. „Viele Tschechen finden eine Stelle in Deutschland, zum Beispiel in der Tourismusbranche oder in einer Fabrik. Sie arbeiten für den Mindestlohn; das ist für Deutsche wenig Geld, aber für uns ist es viel.“ Ein geschickter Handwerker verdiene in Sachsen mehr als ein Bürgermeister in Böhmen, erklärt Gavdunová. Dennoch ist sie seit 13 Jahren im Amt. „Aus Not“ sei sie Bürgermeisterin geworden, sagt die 60-Jährige, die in Pilsen geboren ist und ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen hat. Von Prag zog sie 1983 der Liebe wegen nach Vejprty, 2002 stellte sie sich erstmals zur Wahl. „Die Stadt war in einem schrecklichen Zustand, sie hatte 120 Millionen Kronen Schulden, die Straßen, die Häuser, alles war kaputt.“

Gavdunová ist stolz, dass Vejprty heute anders aussieht, und dass die Zusammenarbeit mit der Nachbarstadt so gut funktioniert. Im Regal neben ihrem Schreibtisch steht ein Bild von ihr mit einem Mann. Die beiden sehen aus wie ein Paar, das schon lange glücklich verheiratet ist. „Das ist nicht mein Mann, sondern der Bürgermeister von Bärenstein“, stellt Gavdunová klar und dreht sich nach dem Foto mit ihrem Amtskollegen Bernd Schlegel (Bärensteiner Liste) um. Gemeinsam stellen die beiden Förderanträge für „grenzüberschreitende kulturelle Zusammenarbeit“ oder für neue Feuerlöschgeräte.

Bürgermeisterin Gavdunová ist stolz darauf, dass die Zusammenarbeit zwischen Vejprty und Bärenstein so gut funktioniert.

Zwar gibt es auf beiden Seiten eine eigene Wehr, die Brandbekämpfer treffen sich aber regelmäßig zu gemeinsamen Übungen. In anderen Bereichen verlässt man sich ganz auf die Nachbarn: So komme zum Beispiel das Gas, mit dem die städtischen Gebäude auf der tschechischen Seite geheizt werden, aus Deutschland. In der Kläranlage von Vejprty wird auch das schmutzige Wasser der Bärensteiner gesäubert. Vor allem aber das jährliche Bierfest und der sächsisch-böhmische Weihnachtsmarkt ziehen viele Besucher an. Schwierig dagegen sei das Thema Gesundheitsversorgung. Die tschechischen Rettungssanitäter dürften ihre Patienten im Notfall nicht zehn Kilometer ins Krankenhaus nach Annaberg bringen, sondern müssten ins gut 30 Kilometer entfernte Chomutov fahren. „Und das, obwohl in Annaberg tschechische Ärzte arbeiten, weil sie dort besser verdienen. Es gäbe also nicht einmal eine Sprachbarriere.“

Auf der tschechischen Seite gibt es die ohnehin nirgends. Ob im Restaurant oder im Supermarkt – wer etwas verkaufen möchte, spricht Deutsch. Vor einer Gaststätte wird auf einer Tafel „Seelachfilet gebacken“ und „Rostbraten nach Teufel Art (Schaft)“ angepriesen, ein Schild weist den „Eintritt in den Aussank“, ein Supermarkt wirbt mit der Aufschrift „Souveniers“. Auch beim Frühstück in der Pension von František Kunert werden beide Sprachen gesprochen. Durchs Fenster kann man Klínovec und den Fichtelberg sehen, den höchsten Berg auf der tschechischen und auf der sächsischen Seite des Erzgebirges. Die meisten Gäste kommen aus Deutschland, viele sind noch in Weipert geboren. Heute sitzt eine junge Frau am Tisch, die mit dem Fahrrad unterwegs ist. Sie ist von Vejprty nach Pilsen gezogen. „Die Gegend wurde ein bisschen vergessen. Hier gibt es nichts, nicht einmal eine Kugel Eis“, beschwert sie sich. „Wenn ich hier wohnen würde, dann würde ich nach Deutschland zum Einkaufen fahren.“ Genau das mache er, sagt der Betreiber der Pension. Er blickt ein bisschen neidisch nach Sachsen, wo er Flügelhorn in einer Kapelle spielt. Dort habe man es geschafft, aus der Industrie- eine Tourismusregion zu machen. Auf der tschechischen Seite fehle die Infrastruktur.

Urlaub in der alten Heimat
Im Musikverein fühlt sich der 61-Jährige als einer von zwei Tschechen wohl. Sonst funktioniere es nicht so richtig, die Menschen aus Bärenstein und Vejprty zusammenzubringen. „Manchmal trifft man sich bei einem Fest, aber dann geht jeder wieder auf seine Seite.“ Zwischendurch deckt Kunert den Frühstückstisch für Harry Lasch und seine Frau. Kurz nach der Geschichte mit der Nähmaschine wurde er mit seiner Familie vertrieben, obwohl sein Vater ein Antifaschist gewesen sei. Heute lebt er in Solnhofen im mittelfränkischen Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen wie viele ehemalige Weiperter. Lasch zieht es immer wieder zurück, er ist Stammgast bei Kunert. „Das ist immer noch meine Heimat“, sagt er. Wenn er in seinem Geburtsort Urlaub macht, fährt er einfach mit dem Auto über die Brücke, die Vejprty und Bärenstein verbindet. Wären nicht all die Schilder („Achtung Staatsgrenze“, „Bundesrepublik Deutschland“, „Česká republika“) und ein paar Märkte mit billigen Zigaretten, asiatischen Verkäufern und allerlei Krimskrams – Lasch würde gar nicht merken, dass er von einem Land ins andere fährt.