Der Menschensammler

Der Menschensammler

Tomáš Princ zieht mit der Kamera durch die Stadt und fotografiert Passanten. Ihre Geschichten erzählt er in seinem Blog „Humans of Prague“

9. 12. 2015 - Text: Melanie NolteText: Melanie Nolte; Foto: Thomas Princ/Humans of Prague

Ein Mann erzählt von seiner krebskranken Partnerin, eine junge Frau berichtet, wie sie sich aus einer Laune heraus ihre langen Haare abschnitt. Eine 90-Jährige schildert, wie sie sich an der Moldau den Arm und den Oberschenkel brach. Und so die Vorstellung ihres eigenen Buchs verpasste. Sie alle haben eine Gemeinsamkeit. Sie sind in den vergangenen Monaten einem Unbekannten mit einer Kamera begegnet, der sie auf der Straße plötzlich ansprach: „Darf ich ein Foto von Ihnen machen?“

Der Unbekannte ist Tomáš Princ. Seit zwei Jahren zieht er durch Prag, lichtet Menschen ab, hört ihnen zu und macht daraus Einträge für seinen Blog namens „Humans of Prague“. Mehr als 800 Geschichten hat er bereits gesammelt, über soziale Netzwerke verfolgen etwa 77.000 Interessierte, wen er in der tschechische Hauptstadt trifft.

Es sind einfache Fragen, die der 30-Jährige den Pragern und manchmal auch Touristen stellt: „Worüber haben Sie in letzter Zeit nachgedacht? Gab es einen Wendepunkt in Ihrem Leben?“ Manche sagen dann nur einen Satz. Andere klagen über zerbrochene Beziehungen, vom Leid des Älterwerdens, freuen sich über einen neuen Job oder schmieden Zukunftspläne.  

Er wolle Menschen eine Stimme geben, die sonst keine haben, erklärt Princ. Bereits als Jugendlicher begann er zu fotografieren und Videos zu drehen, es blieb jedoch sein Hobby, auch als er später Journalismus und visuelle Anthropologie studierte. Nach dem Abschluss zog es den Prager für zwei Jahre ins Ausland. Als Freiwilliger engagierte er sich in Südkorea und Kenia. Nach seiner Rückkehr begann er 2013, als freiberuflicher Fotograf und Filmemacher zu arbeiten. Zufällig entstand das Projekt Humans of Prague. „Ich überquerte gerade die Eisenbahnbrücke in der Nähe des Vyšehrad, da entdeckte ich diesen glatzköpfigen Mann, der sich gegen das Geländer lehnte und auf die Moldau blickte. Ich fragte ihn einfach, was er dachte. Das war nicht wirklich eine tolle Geschichte, aber in dem Moment war ich froh, dass ich meine Angst überwunden und einen Fremden angesprochen hatte.“

Ableger in aller Welt
Ein Vorbild für Princ war Brandon Stanton mit seinem Fotoblog „Humans of New York“. Dessen Plan war es ursprünglich, 10.000 Porträts zu sammeln und sie auf einem Stadtplan zu markieren. Zu den Fotos schrieb er kleine Geschichten und Zitate. Inzwischen folgen Künstler auf der ganzen Welt seiner Idee. Fast jede größere Stadt hat einen Ableger des Fotoprojekts – so zum Beispiel Rom, Amsterdam, Sydney und Berlin.

Die Prager Variante gründete Princ im Sommer 2013 und veröffentlicht seitdem jeden Tag ein Porträt. Die Gesprächspartner müssen weder ihren Namen noch ihr Alter oder andere persönliche Daten preisgeben. Wohl auch deshalb sind die Antworten oft sehr privat. Eine ältere Dame mit weißen Haaren zum Beispiel erzählt von ihrem Sohn, der letztes Jahr verstorben ist. „In diesem Moment hat sich mein Leben komplett verändert.“ Bevor das passierte, sei sie ein lebensfroher Mensch und in Vereinen aktiv gewesen. Bis ihr Sohn irgendwann meinte: „Mama, mach langsam, du bist keine 20 mehr.“ Nach seinem Tod mache das jetzt alles aber keinen Sinn mehr. „Wir hatten eine enge Beziehung. Auch wenn meine Enkelinnen mir versuchen zu helfen, er wird einfach nie mehr hier sein.“

Aber Princ hält nicht nur traurige Geschichten fest. Er weiß selbst nicht, was ihn dazu bewegt, jemanden anzusprechen. „Es sind sicher oft Menschen, die aus der Menge hervorstechen. Aber auch solche, die mir in dem Moment über den Weg laufen, in dem ich genug Mut gefasst habe“, erklärt er die Kriterien und fügt hinzu: „Ich mag diese Zufälligkeit der Begegnung.“ Eine dieser Begegnungen war ein junger Mann, der in einem kleinen Dorf in Nordböhmen aufgewachsen ist. Er erzählte von der Langeweile auf dem Land, wie er deshalb Mülltonnen anzündete und darauf wartete, dass die Polizei kam, vom Nachbarn, der Drogen nahm und an einer Überdosis starb, und von seinem Wendepunkt. „Ich fing an, eigene Videos zu drehen.“ Die Kamera sei der Grund, warum er seine Heimat verlassen habe. „Heute fahre ich nicht mehr oft nach Hause. Meine Familie und Freunde sagen immer, dass ich mich so verändert habe. Und das stimmt, ich habe das Gefühl, dass ich mich immer noch jeden Tag verändere.“

Frettchen und Wolf
Dann wiederum gibt es Geschichten, bei denen jeder Leser schmunzeln muss. „Ich bin ein Frettchen, sie ist ein Hund. Mama ist ein Wolf und versucht uns zu fangen – sie will uns verjagen und unsere Jungen fressen. Aber wenn wir den großen Stein berühren, kann sie uns nichts tun. Deshalb rennen wir herum und warten, bis Mama nicht mehr kann“, gibt ein kleines Mädchen mit langen braunen Haaren und roten Schuhen zu Protokoll. Das Bild, das Princ bei dieser Begegnung festhält, zeigt zwei Mädchen und ihre Mutter beim Spielen im Park.

Nicht immer sind es Porträts, die Princ veröffentlicht – manche Gesprächspartner zeigen nicht einmal ihr Gesicht. So eine Frau, deren Geschichte den Fotografen besonders bewegt hat. Zu sehen sind zwei geschundene Hände, an einzelnen Fingern kleben Pflasterstreifen, am Mittelfinger steckt ein Ring. Es sind die Hände einer obdachlosen Frau, einer Dichterin, die ihren gewalttätigen Mann verlassen hat. „Ich mochte die Mehrdeutigkeit in ihren Gefühlen“, beschreibt Princ die Begegnung mit der Dame. Die Leser in den sozialen Netzwerken rühren solche Erzählungen. In den Kommentaren auf Facebook zu diesem Bild kann man von Bewunderung für den Schritt zur Trennung bis zur Frage, ob ihre Gedichte käuflich zu erwerben seien, alles lesen.

Dass so viele Menschen ihre intimsten Erlebnisse mit einem Wildfremden teilen, ist auch nach zwei Jahren keine Selbstverständlichkeit für Princ, der sich selbst als introvertiert beschreibt. Noch immer sei es eine Herausforderung, Fremde anzusprechen. Auf jeden Fall aber will er Prager Passanten weiterhin ein Plattform bieten. Und er geht sogar einen Schritt weiter. Wie Brandon Stanton in New York es bereits getan hat, plant auch Princ, im nächsten Jahr ein Buch zu veröffentlichen.