Der lange Weg zur Demokratie

Der lange Weg zur Demokratie

Petr Holubec ist seit 1990 Chefredakteur der Tschechischen Nachrichtenagentur. Kurz vor seinem Abschied blickt er zurück

23. 3. 2016 - Text: Corinna AntonInterview: Corinna Anton; Foto: ČTK

Zuverlässig und schnell sollte eine Nachrichtenagentur sein. Und natürlich unabhängig und unparteiisch. Was das heißt, mussten die Angestellten der Tschechischen Nachrichtenagentur ČTK erst langsam lernen, als mit dem Eisernen Vorhang auch die Zensur aus ihrem Arbeitsalltag verschwand. Nicht alle wurden mit der Samtenen Revolution automatisch zu kritischen Journalisten. Petr ­Holubec arbeitet seit 40 Jahren für ČTK, seit 1990 ist er Chefredakteur der Nachrichtenagentur. Bevor er Ende April aufhören wird, sprach er mit PZ-Redakteurin Corinna Anton über seinen angenehmen Job vor der Wende, Schwierigkeiten der Transformation und die Entdeckung der Pressefreiheit.

Sie sind seit 1976 Redakteur bei ČTK. Was hieß es zu dieser Zeit, als Journalist zu arbeiten?

Ich habe in der sogenannten Artikel­redaktion begonnen, dort schrieben wir über alles Mögliche. Uns wurden keine Themen vorgegeben. Ich schrieb zum Beispiel über eine Höhle in der Slowakei, über das Riesen­gebirge, über Wissenschaft, was auch immer. Meine Vorgabe war es, vier Artikel im Monat abzuliefern – vier! Einen musste ich selbst verfassen, die anderen konnten redigiert sein, das hieß, ich wandte mich an irgendwelche Experten mit einer Frage und lieferte die Antworten ab. Das war wirklich bequem. Ich habe mir meine Themen ausgesucht. Die Artikel wurden in mehrere Sprachen übersetzt und erschienen in Zeitschriften, die an die Botschaften im Ausland verteilt wurden. Die einzige Einschränkung war – ohne dass es jemand laut ausgesprochen hätte –, dass die Artikel keine deutliche Kritik beinhalten durften, zum Beispiel durfte man nicht über irgendwelche dramatischen Umweltverschmutzungen schreiben. Eine wirklich angenehme Arbeit, sehr angenehm!

Meinen Sie das ernst?

Sie interessieren sich wahrscheinlich eher für den politischen Druck. Den gab es eigen­t­lich nicht. Es handelte sich eher um eine Selbstzensur. Man wusste, was man schreiben durfte und was nicht. In der Auslandsredaktion zum Beispiel – wo ich allerdings nicht gearbeitet habe – gab es Material, das für die Veröffentlichung in den Zeitungen gedacht war, dann gab es Material für eine engere Gruppe von Leuten, und Material, das nur für ganz wenige bestimmt war. Und schließlich gab es Informationen, die streng gehütet wurden und ausschließlich der Parteiführung zur Verfügung standen. Die Redakteure hatten Zugang zu westlichen Agenturen wie Reuters, die alles Mögliche schrieben. Aber hier wurde nicht alles Mögliche herausgegeben. In der Inlandsredaktion gab es solche Informationen nicht. Es gab keine Firma, deren Leiter nicht parteitreu waren. Die gaben keine brisanten Informationen heraus. Pressekonferenzen wurden damals ausschließlich vom Journalistenverband organisiert. Dort wurde nur das gesagt, was die Partei wollte. Als Journalist schrieb man das, was gesagt wurde. Das war alles.

Gab es Versuche, die Selbstzensur zu durchbrechen?

Eine Kollegin hatte einmal Informationen gesammelt, aus denen unter anderem hervorging, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Nordböhmen niedriger war als in der gesamten Tschechoslowakei. Sie schrieb es – damals noch auf ihrer Schreibmaschine. Dann gab sie es dem zuständigen Editor. Der nahm den Text, las ihn nicht einmal ganz, sondern sah nur den ersten Absatz und legte den Artikel dem Chefredakteur vor. Der schaute den Text an, verstaute ihn in irgendeiner Schublade und seitdem hat ihn niemand mehr gesehen.

Also wurde doch Druck ausgeübt?

Es funktionierte eher umgekehrt. Wichtigere Themen und bessere Bezahlung bekamen die, die ideologisch gefestigt waren, denen die Partei vertraute. Die schrieben über die Sitzungen der KSČ und ähnliche Ereignisse, die anderen nicht. Sie hatten niedrigere Löhne und hatten es auch bequemer. Ich zum Beispiel war eine Zeit lang Wirtschaftskorrespondent. Das hieß, ich hatte Zugang zu den Daten, die offiziell herausgegeben wurden. Ich habe die Meldungen, die von Ministerien in ihrer Bürokraten-Sprache verfasst waren, in schöneres, gebräuchlicheres Tschechisch übersetzt, das war meine Arbeit. Mit Journalismus hatte das nichts zu tun.

Dann kam die Samtene Revolution und Sie sind über Nacht Journalist geworden?

Das war eine außerordentliche Zeit. Bis 1989 waren alle Medien gesteuert. Wenn der Generalsekretär der KSČ irgendwo eine Rede hielt, veröffentlichte ČTK diese ganze Rede. Andere Vorstandsmitglieder bekamen weniger Seiten. Nach der Wende haben wir uns gefragt: Husáks Reden haben wir komplett veröffentlicht – was machen wir nun mit Havel? Sollen wir auch alles herausgeben oder sollen wir kürzen? Wir haben einfach nicht gewusst, wie wir mit der neuen Situation umgehen sollen. Die Reden von Havel haben wir schließlich ganz veröffentlicht.

Hatten die neuen Politiker eine Vorstellung von Pressefreiheit?

Manche glaubten, dass nun eine neue Garnitur gekommen sei, die uns wieder vorschreiben könne, was wir zu berichten haben. Es ist uns aber gelungen, das einzudämmen. In den neunziger Jahren war ich in London und habe dort den Chefredakteur einer Agentur gefragt, wie sie bestimmen, wie viel Raum sie welchem Politiker geben. Er schaute mich an wie einen Dummkopf und sagte: „Wir lesen täglich die Zeitungen.“ Ich konnte mir damals überhaupt nicht vorstellen, dass es darum geht, einzuschätzen, was in den Zeitungen veröffentlicht wird. Jetzt schauen wir uns an, was die Zeitungen drucken und lernen daraus, was wir überbewertet haben und was wir ausführlicher machen sollten. Vor 1989 haben wir uns darüber überhaupt keine Gedanken gemacht, denn das was ČTK herausgegeben hat, stand am nächsten Tag sowieso in allen Zeitungen. Es gab kein Korrektiv.

Es funktionierte nach dem Prinzip „learning by doing“?

Wir haben Seminare besucht, es kamen Journalisten aus dem Westen zu uns, die dauernd über Unabhängigkeit gesprochen haben. Das wiederholten sie wirklich hundert Mal. Aus Großbritannien kam mal ein junger Kerl vom Privatfernsehen. Wir haben nicht verstanden, warum auch er über Unabhängigkeit sprach. Es sei egal, dass es einen Eigentümer gebe, es komme nicht darauf an, wer welche Interessen habe, erklärte er, Unabhängigkeit sei das Wichtigste. Alle haben das wiederholt. Also haben auch wir es versucht.

Ist der Lernprozess heute abgeschlossen – sind die tschechischen Medien unabhängig?

Wie es bei den anderen Medien aussieht, kann ich nicht sagen. Manche sind in Besitz einiger reicher Leute, aber wie sie die Medien beeinflussen, weiß ich nicht. Was die Politik betrifft, müssen Journalisten keine Angst haben. Wenn jemandem der Präsident oder der Premier nicht gefällt, kann er schreiben, was er will. Vor 1989 wurden viele Sachen nicht veröffentlicht. „Na und wem helfen wir damit“, sagten die Vorgesetzten, wenn man einen Betrug aufdecken wollte. Das gibt es jetzt nicht mehr.

Wie funktioniert investigative Recherche bei ČTK?

Ich glaube nicht, dass das die Aufgabe von Agenturen ist. Investigative Recherche ist schrecklich teuer und das Ergebnis unsicher. Denken Sie zum Beispiel an Watergate – wie viele Monate haben Journalisten daran gearbeitet, ohne zu wissen, ob sie überhaupt etwas veröffentlichen werden. Uns zahlen unsere Kunden, also die Medien. Wir müssen darauf achten, dass Einnahmen und Ausgaben im Gleichgewicht sind.

Sie sind seit 1990 Chefredakteur. Was war in den vergangenen Jahren die schwierigste Aufgabe?

Es gab so viele Probleme, ich weiß nicht, was das größte war. Mein erstes Problem war, dass ich plötzlich Chef von meinen ehemaligen Kollegen war und ihnen sagen sollte, was zu tun war – ein menschliches Problem. Ich musste Freunden, mit denen ich vorher Biertrinken war, auf einmal sagen, dass sie pünktlich zur Arbeit kommen müssen. Das zweite große Problem war, dass es hier Leute gab, die dem vorherigen Regime sehr verbunden waren. Aber dieses Problem zu lösen, war die Aufgabe des Generaldirektors. Mir war wichtig, dass die Leute ihre Arbeit gut machen.

Und das machten sie?

Viele von ihnen konnten das nicht. Einer dieser Kollegen ging einmal zu einer Pressekonferenz, bei der der damalige Prager Oberbürgermeister drohte, die Abberufung des Innenministers anzustreben, wenn sich die Sicherheitslage im Stadtzentrum nicht verbessert. Dann hörte ich das im Radio und im Fernsehen – nur wir hatten es nicht. Der Kollege hatte im letzten Satz der Meldung geschrieben, der Oberbürgermeister habe sich kritisch über die Sicherheitslage im Stadtzentrum geäußert. Den Rest hatte er weggelassen. Solche Kollegen gab es mehrere. Sie konnten sich nicht umgewöhnen, hatten Angst, kritisch zu schreiben.

Und die Politiker nutzten das aus?

Mit Petr Uhl als Generaldirektor hatten wir Glück. Er war Dissident und saß neun Jahre im Gefängnis. Er hatte einen sehr festen Charakter. Präsident Vác­lav Havel kam einmal von einer Reise aus den Vereinigten Staaten zurück, kurz darauf sollte er nach Moskau fliegen. Dazwischen hielt er eine Rede auf dem Altstädter Ring, bei der er unter anderem sagte, er sei ein Bote zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml. Daraufhin rief Michael Žantovský, der Sprecher des Präsidenten, bei Uhl an – sie waren alle Dissidenten und duzten sich – und verlangte, diesen Satz aus der Nachricht zu streichen. Ich sagte Uhl, dass das nicht geht. Tausende Leute hatten diesen Satz gehört, den konnten wir nicht einfach streichen. Das wäre absurd gewesen. Wir haben den Satz geschrieben. Uhl rief den Sprecher zurück und sagte: „Hallo Michael, wir sind nicht die Burgnachrichten.“ Dann legte er auf. Wir alle mussten Demokratie erst lernen, sowohl wir Journalisten als auch die Politiker.

Heißt Pressefreiheit, alles ­schrei­­ben zu dürfen?

Es geht nicht darum, alles zu schreiben, sondern auch um ein Gefühl der Verantwortung, was man damit auslösen kann. Kürzlich gab es eine Debatte darüber, ob man veröffentlichen sollte, wie viel Geld für die Freilassung von zwei Frauen gezahlt wurde, die in Pakistan entführt wurden. Mir geht es nicht nur um die Summe. Manche Medien haben geschrieben, warum sie dort hingefahren sind, welche Beziehungen sie hatten – da ging es um ihre Privatsphäre. Darüber nicht zu berichten, hat nichts mit Selbstzensur zu tun, sondern mit der Frage, welche Auswirkungen die Berichterstattung haben kann. Manche Journalisten glauben, dass sie alles schreiben sollten, was sie wissen. Sie können einfach nichts für sich behalten. Das richtige Maß an Mut und Verantwortung – das ist schwierig. Mein Leitsatz ist die Frage, ob es im öffentlichen Interesse ist. Wenn wir erfahren, dass ein Politiker korrupt ist, gibt es keine Diskussion, dann ist es im öffentlichen Interesse, mit dem Finger auf ihn zu zeigen, egal ob er seinen Job verliert.

Schreiben Sie als Chefredakteur eigentlich auch noch selbst Nachrichten?

Chefredakteur zu sein, heißt vor allem den Überblick zu bewahren. Wenn es zum Beispiel ethische Probleme gibt, jemand sich bei einem Thema nicht sicher ist, was man schreiben sollte oder nicht – zum Beispiel wenn der Präsident derbe Ausdrücke verwendet, entscheide das letztendlich ich. In diesem Fall schreiben wir das natürlich, aber wir schreiben dazu, dass es sich um Kraftausdrücke handelt, die der Präsident ausgesprochen hat – ob die Zeitungen das dann veröffentlichen, ist ihre Sache – wir sind ja kein Medium, sondern ein Dienstleister für die Medien.

Was gehört noch zu Ihren Aufgaben als Chef der Nachrichtenagentur?

Ein Großteil meiner Arbeit war es in den vergangenen 25 Jahren, eine neue Organisationsstruktur aufzubauen. Es gab viele personelle Veränderungen und ich musste für jede Aufgabe die richtigen Leute finden. Als ich begonnen habe, hatte die ČTK-Redaktion etwa 450 Angestellte, jetzt sind wir ungefähr 170. Damals hatte jede Redaktion einen Chefredakteur, zwei Stellvertreter und ein eigenes Sekretariat. Jetzt gibt es einen Chefredakteur und ein Sekretariat mit zwei Beschäftigten. Wir mussten alles reduzieren und zwar so, dass es trotzdem noch funktioniert. Seit 2008 mussten wir ständig Personal abbauen. Jemandem zu sagen, dass er gehen muss, war für mich immer das Schwierigste. Egal, wie man das sagt, das nimmt niemand ruhig hin. Ich weiß nicht, wie viele ich schon entlassen musste.

Gibt es in Tschechien genug gute Journalisten?

In den neunziger Jahren gab es plötzlich immer mehr Medien – neue Fernseh- und Radiosender, Zeitungen, Onlinemagazine, alle suchten Journalisten. Wir haben hier mal jemanden eingestellt, der keinen einzigen geraden Satz schreiben konnte – und nach einem Monat ging er für das doppelte Gehalt woandershin, weil man dachte, dass er bei ČTK schon etwas gelernt habe. Jetzt ist es anders. In den Regionen haben wir keine Schwierigkeiten, Mitarbeiter zu finden. Sie kommen gern zu uns, wir haben einen guten Ruf als solide Firma und zahlen anständige Löhne, keine extrem hohen, aber anständige. In Prag ist die Konkurrenz größer, da gelingt es uns nicht immer, die besten Leute zu bekommen.

ČTK hat jetzt so wenig Mitarbeiter wie noch nie – wird es die Agentur in zehn Jahren noch geben?

Davon bin ich überzeugt. In der Krisenzeit seit 2008 habe ich bemerkt, dass die Medien auch am Personal sparen mussten, und zwar deutlich. Auf einmal waren sie mehr auf uns angewiesen. Denn man kann sich ausrechnen: Wenn man zehn Prozent der Leute entlässt – was niemand gerne macht –, kann man das für dasselbe Geld mit ČTK hundertfach kompensieren.

Welches Thema ist für die tschechische Gesellschaft im Moment am wichtigsten?

Am meisten wird derzeit über Migration gesprochen und geschrieben. Ich glaube, dass die Politiker und vielleicht auch manche Medien das dramatisieren. Ich sage nicht, dass es kein Problem ist. Aber  für Tschechien ist es nicht so grundlegend. Es gibt hier keine syrischen Flüchtlinge, die man auf der Straße rumlaufen sieht. Es betrifft die Menschen nicht direkt. Letztendlich wird aus dem Thema eine mediale Blase gemacht, die nur die Politiker aufblasen.

Wenn Sie über Migration sprechen – ist es möglich, darüber objektiv zu schreiben?

Was heißt denn objektiv? Wir schrei­ben zum Beispiel, dass so oder so viele Migranten an dieser oder jener Grenze in Europa sind, oder dass ein Politiker Wirtschaftsflüchtlinge aufruft, nicht nach Europa zu kommen – was mir wie ein verzweifelter Aufruf vorkommt. Aber wir schreiben nicht, ob das ein sinnvoller oder ein lächerlicher Vorschlag ist. Wir schreiben einfach, was gesagt wurde. Wir schreiben alles, aber ein Gesamtbild müssen sich unsere Kunden selbst machen. Der Witz ist, dass eine Agentur keine Meinung hat. Das gefällt mir an der Agenturarbeit. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich manchmal bedauere, nicht bei einer Zeitung zu arbeiten, bei der ich einen Kommentar schrei­ben kann, wenn mich etwas ärgert.

Was ärgert Sie zum Beispiel gerade?

Das werden Sie von mir sicher nicht erfahren.

HINTERGRUND: Tschechische Nachrichtenagentur
Die Tschechische Nachrichtenagentur ČTK (Česká tisková kancelář) ist eine öffentlich-rechtliche, wirtschaftlich und politisch unabhängige Institution, die sich durch den Verkauf von Nachrichten finanziert. Gegründet wurde sie am 28. Oktober 1918, am selben Tag wie die Erste Tschechoslowakische Republik. Bis in die neunziger Jahre war sie eine staatliche Agentur. Heute hat sie 14 Filialen in Tschechien und Korrespondenten in ausgewählten europäischen Städten. Außerdem arbeitet sie mit ausländischen Agenturen wie Reuters, AFP und DPA zusammen. Aufsichtsbehörde ist der ČTK-Rat, der vom Unterhaus des tschechischen Parlaments gewählt wird.