„Der Irak ist kein Ziel für eine Pauschalreise“

„Der Irak ist kein Ziel für eine Pauschalreise“

Lucia Brinzanik arbeitet bei „Ärzte ohne Grenzen“ und gleicht den harten Alltag ihres Jobs mit einem ungewöhnlichen Hobby aus

4. 11. 2015 - Text: Melanie NolteText: Melanie Nolte; Foto: Lucia Brinzanik/Jakub Stadler

Es war einer der bewegendsten Momente im Leben von Lucia Brinzanik: Ein Mann lädt sie zu sich nach Hause ein, möchte ihr seine Familie vorstellen, ihr zeigen, wie er lebt. Er verspürt so viel Dankbarkeit für die Hilfe und Unterstützung, die sie und ihre Kollegen ihm zukommen ließen. Als Brinzanik davon berichtet, strahlen ihre Augen. Ein kleiner Funken huscht über ihr Gesicht, um ihre Mundwinkel erscheint ein verschmitztes Lächeln. Man merkt, wie viel ihr dieser eine Moment bedeutet hat und wie gern sie sich an ihn zurückerinnert.

Die Zeit im Zweistromland, genauer gesagt im Norden des Landes, in der Autonomen Region Kurdistan, wird Lucia Brinzanik wohl nie mehr vergessen. Die 37-Jährige arbeitet für „Ärzte ohne Grenzen“. Im vergangenen Juli reiste sie für drei Wochen zum Stützpunkt der internationalen Hilfsorganisation im Norden Iraks. „Wir helfen dort Vertriebenen, die vor den Konflikten im Irak geflohen sind sowie Flüchtlingen aus Syrien“, fasst sie die Aufgaben zusammen. Im Lager Domeez versorgte „Ärzte ohne Grenzen“ („Médecins sans frontières“/kurz „MSF“) während des Kalenderjahres 2014 rund 60.000 Flüchtlinge aus Syrien. Die Ärzte helfen vor allem bei der Gesundheitsversorgung, geben aber auch psychologische Hilfe. Außerdem eröffnete im August 2014 eine Geburtshilfestation, in der bis Jahresende 571 Entbindungen durchgeführt wurden.

Brinzanik ist keine Ärztin, sondern Journalistin. Sie arbeitete vor ihrem Engagement für „Ärzte ohne Grenzen“ für verschiedene Zeitungen, unter anderem auch in Deutschland als Praktikantin für den Axel-Springer-Verlag, bevor sie 2006 als Leiterin der Kommunikationsabteilung der Prager Sektion bei der Hilfsorganisation anfing. „Ich spreche vor Ort mit den Menschen, über ihr Leben, ihre Situation, Bedürfnisse und Probleme. Ich versuche immer so viel wie möglich zu erfahren, um danach der Öffentlichkeit die Lebensumstände der Menschen näherzubringen.“ Humanitäre Arbeit und die Möglichkeit, dadurch etwas bewegen zu können, seien die Gründe, warum Brinzanik heute bei MSF arbeitet. Während ihres Auslandsstudiums in Hamburg erfuhr sie von einem Bekannten von der Organisation. Der Afghane erzählte davon, dass er nach seinem Medizinstudium in seine Heimat zurückkehren möchte, um Menschen in Not zu helfen. Seine Pläne veranlassten Brinzanik, sich selbst über „Ärzte ohne Grenzen“ zu informieren. „Ich war überrascht, mit welcher Überzeugung er seine Zukunft anging “, erinnert sie sich. „Die Prinzipien, die MSF vermittelt, sind meinen persönlichen sehr nah. Ich konnte mich sofort damit identifizieren.“

Seit ihrer Gründung in den frühen siebziger Jahren ist die Organisation ihren Grundsätzen stets treu geblieben: Alle Opfer von Katastrophen, seien sie natürlich oder politisch bedingt, haben ein Recht auf schnelle, effiziente und professionelle medizinische Hilfe. Nationale Grenzen, politische Interessen oder Sympathien dürfen keine Auswirkungen darauf haben, wer humanitäre Hilfe erhält und wer nicht. Das gelingt „Ärzte ohne Grenzen“ vor allem durch die Aufrechterhaltung eines hohen Grades an Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität.

Sicherer als erwartet
Seit 2003 ist MSF auch im Irak aktiv. Anfang 2012 wurde in der Stadt Dohuk das Lager Domeez errichtet. Geplant wurde es für rund 30.000 Menschen. Diese Zahl ist bis heute längst ausgereizt. Immer wieder hört man von Anschlägen des IS. Angst hatte Brinzanik vor ihrer Reise trotzdem nicht. „Der Irak ist natürlich kein Ziel für eine Pauschalreise“, scherzt sie. Vor ihrer Ausreise war auch ihr Bild über die Zustände vor Ort von der Medienberichterstattung geprägt. Doch bei ihrer Ankunft musste sie feststellen, dass gerade die Sicherheitslage besser war als erwartet. Brinzanik berichtet von einer relativ sicheren Zeit in Dohuk, und von Menschen, die trotz Krieg, Zerstörung und persönlichen Schicksalsschlägen zuversichtlich in die Zukunft schauen. „Natürlich habe ich Leute getroffen, die geflohen sind und alles hinter sich lassen mussten. Manche haben ihre Familie oder Teile davon verloren oder wissen bis heute nicht, ob ihre Söhne oder Töchter noch leben. Aber egal in welcher Situation und was für eine Geschichte sie hinter sich hatten: Die Menschen sahen immer auch Hoffnung.“ Hoffnung auf ein besseres Leben, auf ein wenig Zeit in Frieden, um dann irgendwann wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Beeindruckt habe die gebürtige Slowakin vor allem die Hilfsbereitschaft untereinander. „Jeder hat versucht zu helfen, nicht nur der eigenen Familie, sondern auch den Nachbarn und Bekannten“, erklärt sie. „Man kann viel von diesen Menschen lernen: Sie schauen nicht auf Geld oder Wohlstand, sie wollen einfach in Frieden leben.“

Beim Gespräch mit Brinzanik wird schnell klar, wie sehr sie ihre Arbeit liebt; und für wie wichtig sie sie hält. Die Mutter zweier Söhne ist sich aber auch bewusst, dass bei einem derart emotionalen und kräftezehrenden Job ein Ausgleich im Privatleben vonnöten ist. Ihr persönliches „Anti-Stress-Programm“ heißt „FolkLove“, ein Onlineshop mit Folklore-Produkten. Mit einer Freundin eröffnete sie 2013 zunächst einen kleinen Laden im Prager Stadtteil Žižkov. „Ärzte ohne Grenzen und „Folk-Love“ sind zwei komplett unterschiedliche Dinge. Mich in diesen zwei verschiedenen Welten zu bewegen, ist  meine Art, alles im Gleichgewicht zu halten“, so Brinzanik.

Inzwischen existiert nur noch der Onlineshop, über den sie slawische Folklore-Kleidung und -Schmuck mit typischen Verzierungen und Ornamenten verkauft. Brinzanik will das Geschäft solange betreiben wie nur möglich. Es geht darum, stets in Bewegung zu bleiben, neue Projekte anzugehen und sie durchzuziehen. Das ist auch bei humanitärer Hilfe ein elementarer Baustein. Deshalb bejaht Brinzanik auch die Frage, ob eine weitere Reise in den Irak für sie in Frage käme. „Auf jeden Fall“, und fügt lachend hinzu: „Sofern meine Familie mich noch einmal entbehren kann.“