Der Berg, auf dem Stalin explodierte

Der Berg, auf dem Stalin explodierte

In Prag gibt es einen Ort, dem jede Zeit ihren Stempel aufdrücken möchte – doch gehört er nur sich selbst

7. 11. 2012 - Text: Martin NejezchlebaText: Martin Nejezchleba; Foto: čtk

Die Zeit steht still. Es fehlt Geld, um sie am Laufen zu halten. Auf der Letná, dem Sommerberg am Prager Moldauufer, passiert das ständig. Blickt man vom Altstädter Ring durch die mit edlen Boutiquen gesäumte Prachtstraße Pařížská, thront auf der Anhöhe ein riesiges Metronom. Seit 1991 schwingt dessen roter Zeiger hin und her – meistens. Er soll die Bewohner der tschechischen Hauptstadt daran erinnern, dass ihnen die Sekunden und Minuten wie Sandkörner durch die Finger rinnen. Die „Zeitmaschine“, so der offizielle Name des Kunstwerks, wird mit Strom aus Sponsorengeldern gespeist. Bleiben diese aus, dann hält der Taktzähler an.

Dem Sommerberg wollten schon viele den Stempel ihrer Zeit aufdrücken. Am verbissensten machten sich die stalinistischen Machthaber der Tschechoslowakei ans Werk. Als Zeichen der Dankbarkeit gegenüber den sowjetischen Befreiern ließ der erste Arbeiterpräsident Klement Gottwald über den Dächern der Goldenen Stadt die größte Stalin-Statue der Welt errichten. „Für die Ewigkeit“ sollte der 30 Meter hohe Generalissimus über die Stadt wachen. Gigantische Granitblöcke wurden aus Nordböhmen herangeschafft, Straßen und Brücken mussten befestigt werden. Tausende Arbeiter schwitzten, hunderte Bildhauer hämmerten.

Sieben Jahre Ewigkeit
Das Projekt war derart überdimensioniert, dass bis zur Einweihung am 1. Mai 1955 sechs Jahre über den Sommerberg zogen. Gottwald war bereits tot. Stalin auch. Otakar Švec, der Autor der monströsen Statue, wurde drei Monate vor den Feierlichkeiten auf dem Boden seiner Küche aufgefunden. Neben ihm eine leere Packung Schlaftabletten, der Gashahn offen.

Die Ewigkeit dauerte sieben Jahre. Sie brachte den 20. Parteitag der KPdSU und Nikita Chruschtschows Geheimrede. Stalins Gräueltaten wurden öffentlich, die „Tauwetter-Periode“ setzte dem Personenkult ein Ende. Über den Budapester Heldenplatz fegte im Sommer 1956 der Ungarische Volksaufstand hinweg, aufgebrachte Demonstranten stürzten  den dortigen Bronze-Stalin von seinem Sockel.

In Prag benötigte man zwei Parteitage mehr und etwa zwei Tonnen Sprengstoff. Die Abrissarbeiten dauerten Monate, drei heftige Explosionen erschütterten im Herbst 1962 den Sommerberg. Am 7. November, pünktlich zur alljährlichen Feier der Oktoberrevolution, war der Spuk vorbei. Die peinliche Episode, so bezeichnend für die Absurditäten des real existierenden Sozialismus, wurde vom tschechoslowakischen Politbüro einfach totgeschwiegen. Die größte Stalin-Statue der Welt hat es nie gegeben.

Fast. „Zum Skaten ist das hier der beste Ort in ganz Europa“, sagt Milan atemlos. Er wischt sich eine blonde Strähne von der verschwitzten Stirn, stößt sich mit dem Fuß vom Granitboden ab und gleitet auf eine Stufe zu. Einzelne Blöcke wurden aus dem einstigen Podest Stalins herausgelöst und zu Hindernissen aufeinander gestapelt. „Das hier ist das einzig Gute, was die Kommunisten für uns getan haben“, grinst Jan und nippt von seinem Dosenbier. Skateboarder, Jugendliche, Pärchen: Sie alle verabreden sich nicht auf dem Sommerberg, sondern „am Stalin“.

Visionen
Richard Biegel fährt mit dem Finger den Mäander der Moldau nach. In der Hand hält er urbanistische Pläne der vergangenen zwei Jahrhunderte. „Der Fels auf dem wir stehen, war schon immer ein organischer Bestandteil der Stadt, er ließ den Flusslauf entstehen“, sagt der Architektur-Historiker. Er blickt ins Tal und zieht sich seinen schwarzen Filzhut etwas tiefer ins Gesicht. Touristendampfer glitzern in der Herbstsonne. „Lange war das hier Peripherie. Das Plateau hatte lediglich militärische Bedeutung. Wer Letná einnahm, hatte die gesamte Stadt in seiner Gewalt.“

Erst als die Josefstadt, das jüdische Ghetto, Anfang des 20. Jahrhunderts modernen Jugendstilbauten weichen musste, erlangte der Sommerberg neue Bedeutung. Die Pařížská-Straße sollte zur Prager Champs-Élysées werden, man plante, eine Schneise durch den Fels zu schlagen. Der Weg in die neuen Stadtteile hinter dem Sommerberg sollte durch ein monumentales Siegestor führen. Der königlich-kaiserliche Hof in Wien wusste die allzu weltstädtischen Pläne im Kronland Böhmen jedoch zu verhindern.

Das Letná-Plateau wurde zum Freizeitareal der Prager: Pferderennbahn, Sportplätze, Kleingärten, Parks. Lange Zeit hatten beide großen Fußballvereine Sparta und Slavia hier ihre Stadien, daneben der Deutsche Fußball-Club Prag.

Während der Ersten Republik ging der Kampf um den Sommerberg weiter. Der junge Staat brauchte einen repräsentativen Regierungssitz. Auf den Plänen, die in den Händen des Architektur-Historikers Biegel im Wind flattern, ragt eine massive Parlamentskuppel über dem Fluss empor.

Visionen gab es viele, keine davon wurde Wirklichkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden auch die kommunistischen Machthaber eine riesige Freifläche unweit des Zentrums vor. Dem Regime, das seine Legitimität in der Diktatur des Proletariats begründet sah, kam das gelegen. Schließlich brauchte es einen Ort, an dem die Massen ihre Liebe zum jeweiligen Führer manifestieren und die Volksarmee mit den Messern gegen die imperialistische Bedrohung rasseln konnte.

Im Oktober 1949 erhielten Otakar Švec und mehr als 50 weitere Bildhauer Post. Sie waren eingeladen, Vorschläge für eine Stalin-Statue am Rande des Sommerbergs einzureichen. Alle anderen Satellitenstaaten hatten dem Kreml-Führer bereits ihre Ergebenheit bewiesen. Der Druck auf die Prager Politbosse war folglich groß und so sollte auch die Statue groß werden. Keiner der Künstler konnte es sich erlauben, auf die Teilnahme am Wettbewerb zu verzichten.

Servietten-Gekritzel
Um sich in die Zeit zurückzuversetzen, als über der Moldau ein gigantischer Baukran aus dem Eisenbeton-Kern der werdenden größten Stalin-Statue der Welt ragte, muss man nur wenige Gehminuten zurücklegen. Im Innenhof eines heruntergekommenen Gründerzeitbaus hat Bildhauer Josef Klimeš sein Atelier. Durch das Glasdach tropft es auf den verstaubten Holzboden. Der 84-Jährige gestikuliert aufgeregt mit seinen steifen Fingern, als er davon erzählt, wie er als junger Student der Kunstakademie am Stalin-Monument arbeitete. Warum Otakar Švec das Projekt bis zum Selbstmord trieb, dafür hat Klimeš seine eigene Theorie. „Er wollte nicht gewinnen, hatte keine Ideen“, sagt der rüstige Mann und fährt sich dabei durch den wuchernden, weißen Oberlippenbart. „Švec ging mit einem Maler, einem gewissen Zábranský, Kaffee trinken und erzählte ihm vom Wettbewerb. Den ersten Entwurf kritzelte Zábranský damals auf eine Serviette“, lacht Klimeš.

Über das unglückliche Schicksal von Švec, der den Wettbewerb entgegen den eigenen Erwartungen gewann, ranken sich Legenden. Fest steht, dass er über sechs Jahre enormem Druck ausgesetzt war. Ständig tauchten Minister und Funktionäre in seinem Atelier auf, forderten einen größeren Stalin, andere Köpfe auf den Figuren, die dem Führer folgten. Das Projekt wuchs allen über den Kopf.

Die fertige Statue zeigte Stalin in Napoleon-Pose, seine rechte Hand im Mantel, in der linken Hand ein Buch. Hinter ihm reihten sich Vertreter der Arbeiterklasse der Sowjetunion zur einen, die der Tschechoslowakei zur anderen Seite. Am Ende standen zwei Soldaten Wache. Die „Schlange beim Metzger“ nannten die Prager den Koloss schmunzelnd.

Für Josef Klimeš ist die schweißtreibende Arbeit auf dem Sommerberg vor allem Teil einer schönen Jugenderinnerung. Am schwer zu bearbeitenden Granit lernte er sein Handwerk. „Woran ich gearbeitet habe? Das kann ich Ihnen genau sagen: Am Knie von Iwan Wladimirowitsch Mitschurin“, sagt ein amüsierter Klimeš und deutet dabei mit seinen Händen Form und Größe des Granit-Gelenks an. Dass der Botaniker für die sowjetische Wissenschaftler-Riege auf dem Sommerberg stehen sollte, war angeblich eine Idee von Kulturminister Zdeněk Nejedlý höchstpersönlich. Otakar Švec tobte.

Bei den Abrissarbeiten von 1962 schlich sich der damals 34-jährige Klimeš auf das streng bewachte Gelände. Die heimliche Aktion, deren Geheimhaltung unmöglich war, zog ihn magisch an. Mit seinem Fotoapparat hielt er fest, was er konnte. „Dass die gleichen Politiker, die den Bau über Jahre vorangetrieben hatten, nun den Abriss anordnen mussten, war eine riesige Blamage. Es war der Preis für die Speichelleckerei“, beschreibt der ergraute Künstler seine damaligen Gedanken. Bald lagen 17.000 Tonnen Granit und 140 Millionen Kronen in Trümmern.

Stalins Verschwinden war gleichzeitig ein Signal dafür, dass das Tauwetter auch an der Moldau angekommen war. Es folgten das Projekt „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, Prager Frühling, Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts, Besatzung, Normalisierung. Der mehrstöckige Bunkerkomplex, der bis heute unter dem Stalin-Sockel vermodert, diente über Jahre hinweg als Kartoffellager.

Leben füllte die weitläufigen Gemäuer erst im Oktober 1990, als sie Schauplatz für das internationale Kunsthappening „Totalitäre Zone“ wurden. Aus dem Sommerberg tönte damals ein Piraten-Sender. „Ihr hört Radio Stalin“, meldeten sich die euphorischen Moderatoren wahlweise auf Englisch, Tschechisch oder Russisch. „Wir wollten darauf hinweisen, dass der Geist des Kommunismus sich nicht einfach in Luft aufgelöst hat“, erinnert sich eine der Gründerinnen des Radios, Lenka Wienerová. Sie war damals 25 und hängte ihren Job beim staatlichen Rundfunk an den Nagel.

Nach einer Woche kam die Polizei und beschlagnahmte den Sendeapparat, den die jungen Radiomacher mit einem Lieferwagen aus Frankreich herangekarrt hatten. Geldstrafen drohten. Jedoch kannte die junge Republik keine Paragraphen für illegales Radiomachen, Journalisten und Bürger sprachen sich für eine Zerschlagung des Rundfunk-Monopols aus. Aus „Radio Stalin“ wurde der erste private Sender „Radio 1“, den Wienerová bis heute leitet.

Über die weitläufige Ebene auf dem Sommerberg fegte auch die Nachwendezeit hinweg, ohne dauerhaft Spuren zu hinterlassen. Im November 1989 blickte Václav Havel auf nahezu 800.000 Menschen, die hier die Samtene Revolution feierten. 1990 hielt Papst Johannes Paul II. hier seine erste Messe in der Tschechoslowakei; auch die Religionsfreiheit war in die junge Demokratie zurückgekehrt.

Heute bohrt der längste Stadttunnel Europas seinen Weg durch die Letná-Ebene, die korruptionsverdächtigen Verträge um das Groß-Projekt fressen seit Jahren große Teile des städtischen Budgets. Lange war ein Ozeanarium über der Moldau geplant. Unweit sollte die futuristische Nationalbibliothek des inzwischen verstorbenen Star-Architekten Jan Kaplický stehen; um den Bau des sogenannten „Kraken“ zu verhindern, drohte Staatspräsident Klaus, sich höchstpersönlich an die Bagger zu ketten. Momentan plant das Rathaus einen Touristenpfad entlang des Bergkamms.

Verschnaufpause
Der blanke Sockel, auf dem einst in Stein gemeißelt einer der größten Verbrecher der Geschichte auf die Stadt blickte, bietet heute Verliebten und Touristen eine atemberaubende Aussicht. „Es gibt Orte in Städten, die gehören nur sich selbst“, sagt der Architektur-Theoretiker Biegel, „das hier ist so ein Ort.“ Nach den Turbulenzen des 20. Jahrhunderts sei es an der Zeit, dem Sommerberg eine Verschnaufpause zu gönnen. Für ein paar Tage hört der rote Zeiger der „Zeitmaschine“ auf seine Worte. Dann setzt er sich wieder in Bewegung.